Arbeiten ist ein zentraler Lebensbereich. Vieles hängt an der Frage, ob wir Arbeit haben. Und dann auch: wie wir arbeiten. 20blue schaut aus drei Perspektiven auf die neue Arbeitswelt.
Fragen Sie eine:n Historiker:in, eine:n Soziolog:in, eine:n Psycholog:in oder eine:n Organisationsforscher:in, werden Sie vier Perspektiven bekommen. Fragen Sie Arbeitnehmer:innen und Selbstständige, zwei weitere. Die Multiperspektivität, die wir mit unserer Expert Community bereitstellen können, ist ein Vorteil, um komplexen Fragen der Gegenwart auf die Schliche zu kommen. Die Fähigkeit, komplexe Themen so zu erzählen, dass Sie nachhaltig wirken, ist eine andere. Anja Mutschler und ihr Team betreuen wissensorientierte Entscheidungsfindung & Kommunikation.
Digital arbeiten
Pioniere der neuen New-Work-Bewegung sehen die Digitalisierung des Arbeitens als große Chance für besseres Arbeiten. Ist Arbeit 4.0 wirklich anders? Oder arbeiten wir einfach nur mit neuen Tools und Workflows?
New Work ist eine alte Idee, die durch die digitale Transformation der Arbeitswelt an Fahrt aufgenommen hat: Nicht ganz freiwillig sprechen wir über die Neue Arbeitswelt — denn Automatisierung und Industrie 4.0, künstliche Intelligenz (KI) und Virtualisierung lassen alte Berufsbilder und damit einen traditionellen Begriff von Arbeit verschwinden: Maloche, und damit auch sinnferne Arbeit ist im öffentlichen Diskurs kaum mehr präsent. Gleichzeitig werden neue Lebensläufe überhaupt erst möglich — als qualifiziert gelten plötzlich andere, partizipativ und transparent agierende, häufig jüngere Personen mit unorthodoxen Lebensläufen. Der (meist männliche) Chef von früher ist heute (gern auch female) Leader — eine Leitfigur, die Orientierung und Halt bietet, ohne autoritär zu agieren. Der Zusammenhang mit der digitalen Transformation, in der neue Tools und Prozesse in die Arbeitswelt Einzug hielten, ergibt sich durch die Folgen digitalen Arbeitens: Digitalisierung in der Arbeitswelt galt und gilt als Synonym für flexible, ermächtigende Strukturen — schließlich erlaubt die Technologie ein Leben jenseits der Stechuhr. In einem Alltag, in dem die Abwesenheit von Digitalität einen eigenen Begriff bekommen hat (Digital Detox), heißt digital arbeiten aber auch: Leben und Arbeiten verschmelzen. Deshalb ist digital Arbeiten manchen Verheißung, manchen ein Fluch: Ermöglicht die digitale Arbeitswelt mehr Teilhabe, mehr sinnstiftende Tätigkeit? Oder sind wir Sklav:innen der Technologie und always on? Manche fragen gar: Hat sich die Debatte überhaupt verändert? Oder haben wir nur die sichtbaren Kontrollinstrumente durch unsichtbare abgelöst? Und was heißt das für die Zukunft des Arbeitsmarktes? Wird sich eine digitale Souveränität entwickeln, in der Arbeitnehmer:innen zunehmend selbst Wert und Beitrag ihrer Arbeit bestimmen, weil die Technologie ihnen erlaubt, ihre eigene Work-Life-Balance zu finden? Oder: Hat sich eigentlich nichts geändert, weil die Tools und Technologien nur neue Dichotomien zwischen Arbeitgeber:in und Arbeitnehmer:in verursachen? Wird unter dem Eindruck digitaler Knechtschaft gar der Rückzug ins Analoge versucht, weil die fließenden Übergänge zwischen Arbeit und Privatleben zu Stress oder gar Burn-Out führen?
Ereignisse wie die Corona-Pandemie zeigen, dass der Arbeitsmarkt stark von äußeren Einflüssen abhängt – wie viel Lust und wie viel Pflicht digital Arbeiten für die einzelnen Berufsgruppen bedeutet, hängt wesentlich auch von der wirtschaftlichen Gesamtstimmung ab.
Mit diesen Fragen beschäftigen sich die Mitglieder aus unserer Expert Community: wissenschaftlich und praktisch und aus dem Blickfeld verschiedener Branchen und Länder.
Nachhaltig arbeiten
Corporate Social Responsibility fristete lange ein Schattendasein in den Schaltzentralen von Unternehmen. Mit Klimakrise und EU Green Deal nimmt das Thema an Fahrt auf. Ist die Zeit von Greenwashing jetzt vorbei?
Circular Economy ist ein Schlagwort dieser Zeit. Aber gibt es jenseits der Wachstumsphilosophie eine Ökonomie, die funktioniert? Fragt man eingefleischte Ökonom:innen, so lautet die Antwort zumeist: nein. Ohne Wachstum, kein Fortschritt. Auf der anderen Seite stehen, teilweise durch Politik erzwungene, Maßnahmen von Unternehmen, nachhaltige Prozesse einzuführen. Corporate Social Responsibility (CSR) gibt es bereits seit den 1980er Jahren. Das Konzept stand aber bis zuletzt unter dem Verdacht, eine reine Marketingmaßnahme, Greenwashing zu sein: Ein gepflanzter Baum macht noch kein grünes Management. Mit der Klimakrise und ehrgeizigen politischen Zielen könnte sich das ändern. Der European Green Deal ist eine groß angelegte Investitionsmaßnahme für europäische Unternehmen, die den gordischen Knoten einer nachhaltigen, zugleich starken Wirtschaft zerschlagen soll. Aber unter welchen Voraussetzungen? Heißt nachhaltig wirtschaften auch, dass wir weniger global arbeiten müssen, weil eine Wirtschaft, die auf Outsourcing und niedrigen Lohnkosten, auf der „Externalisierung von Kosten“ beruht, gar nicht nachhaltig sein kann? Welche unübersehbaren Kosten hätte eine de-globalisierte Gesellschaft?
Betroffen sein könnte davon beispielsweise auch die Eine-Welt-Bewegung. Sie macht sich seit Jahren stark für bessere Arbeits- und Produktionsbedingungen in Ländern des Globalen Südens, die ohne die (europäische?) Auslagerung von Produktion (aus dem Globalen Norden) möglicherweise vom globalisierten Weltmarkt abgeschnitten wären. Faire und umweltfreundliche Nachhaltigkeit geraten hier bisweilen in Konflikt. Die richtigen Zahlen & Fakten können hier weiterhelfen, ebenso wie Expert Panels, die für die jeweilige Branche einzuordnen vermögen, was Nachhaltigkeit in der Arbeitswelt dort bedeutet. Nachhaltig arbeiten lässt sich aber auch ganz anders verstehen: Ist meine Arbeit, die ich leiste, nachhaltig? Ist sie sinnvoll? Welchem Zweck dient sie? Die Gen-Y-Debatte lässt sich als Beitrag für einen hedonistischen Arbeitsbegriff verstehen – „ich mache nur, was mir Freude bereitet“. Oder als Wunsch nachhaltig zu arbeiten. Der Purpose, Zweck, Sinn wird von einigen Arbeitsforscher:innen als zentrale Frage der heutigen arbeitenden Bevölkerung verstanden. Gleichzeitig gilt: Ohne Arbeit bist du nichts. Wie gehen wir mit diesen Widersprüchen um? Inwieweit digitales und nachhaltiges Arbeiten zusammenpassen (können), gehört zu den spannendsten Fragen der Arbeitswelt der Zukunft.
Divers arbeiten
Diversity am Arbeitsplatz ist ein großes Thema. Ebenso: Chancengleichheit bei Ausbildung und Beruf und faire Bezahlung. Die soziale Frage in der Arbeitswelt prägt viele Debatten. Wie ungleich ist die Arbeitswelt heute — und wie können wir das ändern?
Diskriminierung am Arbeitsplatz ist (spätestens) seit der Verabschiedung des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) von 2006 ein Thema im öffentlichen Bewusstsein. Die Antidiskrimierungsstelle des Bundes fasst folgende Gründe zusammen, aus denen Menschen diskriminiert werden können: Alter, Geschlecht, Religion, ethnische Herkunft, Behinderung und chronische Krankheit sowie sexuelle Identität. All diese Faktoren spielen auch in der Arbeitswelt eine große Rolle. Die letzten Jahre der Konjunktur, die einen sog. Arbeitnehmermarkt hervorgebracht haben, in dem die Wünsche und Bedürfnisse der Arbeiternehmer:innen starke Berücksichtigung gefunden haben, haben diese strukturellen Ungleichheiten auf dem Arbeitsmarkt in den Fokus gerückt. Faire Löhne und Home Office, Diversity am Arbeitsplatz oder der Thomas-Kreislauf sind nur einige Schlagworte der immer lauter werdenden Debatte.
Seit 2006 hat die deutsche Gesetzgebung einiges vermocht, um die Gleichheit zwischen Männern und Frauen auf dem Arbeitsmarkt zu verbessern. Genderequality in der Berufswelt ist aber nur im regulierten öffentlichen Dienst zur Norm geworden. Mancherorts ist die berufliche Gleichstellung zwischen Mann und Frau weiterhin ein Papiertiger. Vieles hängt von der Top-down gelebten Haltung zu diesem Thema ab — also, wie das Management eines Unternehmens sich zum Thema verhält: Ist die Frage nach der Schwangerschaft zwar offiziell verboten, stellen sie nach einer Umfrage immer noch rund ein Drittel aller Personaler:innen. Natürlich nur den Frauen. Indes: Kann es eine Revolution von oben überhaupt geben? Eher alte, eher männliche, überwiegend weiße Netzwerke, die die Karrierechancen im Zweifel bis heute diktieren, werden sich nicht aus sich heraus verändern.
Entsprechend hart umkämpft sind die Fortschritte für mehr Diversity am Arbeitsplatz. LGBTQ*-Aktivist:innen können davon ein Lied singen: Zwar haben sie sich in den letzten Jahren zumindest bei linksliberalen Medien Gehör verschaffen können. Aber es bleibt schwierig bis unmöglich, überhaupt Statistiken zu zitieren, die valide Zahlen zur Verteilung von homo-, bi-, trans- oder intersexuellen Personen im Arbeitsleben enthalten. In der Regel werden diese Daten nicht erfasst. Ähnlich sieht es bei der Frage nach strukturellem Rassismus am Arbeitsplatz aus, da in Datenerhebungen die ethnische Herkunft nur unsauber abgefragt wird. Dieser statistische Bias zeigt auch, dass 2020 die Heteronormativität weit verbreitet ist. Judith Butler beschrieb dieses Phänomen schon in den 1990ern. Seither haben sich zahlreiche Wissenschaftler:innen und Aktivist:innen der Auflösung dieser binären Gendersicht verschrieben. Gleichzeitig wachsen Proteste gegen den “Genderquatsch”. Die Anliegen weiblicher Gleichstellung sind dem Mainstream im Vergleich zum Anliegen von LGBTQ*-Personen oder People of Color, auch wegen der politisch breiteren Unterstützung, einfacher verständlich zu machen. Gender und Diversity sind daher, obwohl sie oft als Begriffspaar genannt werden, in Aktion und Reaktion der relevanten Bezugsgruppen ganz verschiedene Debatten der Gegenwart.
Die Coronakrise zeigt, unter anderem am Beispiel der kostenlosen Care-Arbeit, die nach wie vor vorwiegend von Frauen übernommen wird, wie fragil die erreichten Siege für mehr Genderequality auf dem deutschen Arbeitsmarkt sind. Deutschland gilt aufgrund alter Geschlechterstrukturen sowieso als Nachzügler in der Debatte. Anders als etwa die skandinavischen Länder, wo Elternzeit für Väter Pflicht ist und eine rein weibliche Regierung (Finnland) absolut akzeptiert ist. Mitursächlich an dem möglichen Roll-Back ist aber auch die Struktur eines Arbeitstages, der immer noch zu sehr an fixen Terminen und Nine to Five orientiert ist – eines Tagesablaufs, den, gerade im Home Office, in der Regel nur ein Mensch gänzlich ohne Haushalts- oder Care-Verpflichtungen leisten kann. Menschen ohne diese Verpflichtungen sind nach Umfragen auch die einzige Gruppe, die die Coronakrise nicht stressiger empfunden hat als andere Phasen ihres Berufslebens.
Ein journalistisches Projekt, an dem unser Head of Digital & Information Björn Berger beteiligt war, zeigt eindrucksvoll, welchen Einfluss eine von der cis-sexuellen Norm abweichende Biographie haben kann: weiblich sein, Migrant:in sein, homosexuell sein – all das sind Merkmale, aufgrund derer Menschen diskriminiert werden – auch in ihrem Arbeitsleben.
Erst das Fressen, dann die Moral?
Und Sünd und Missetat vermeiden kann
Zuerst müßt ihr uns schon zu fressen geben
Dann könnt ihr reden: damit fängt es an.
Ihr, die ihr euren Wanst und unsere Bravheit liebt
Das Eine wisset ein für allemal:
Wie ihr es immer dreht und immer schiebt
Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.
Erst muß es möglich sein, auch armen Leuten
Vom großen Brotlaib sich ihr Teil zu schneiden
Ohne Job wirken viele Debatten sinnlos. Erstaunlich — bis heute ist Brechts „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral“ gültig. Fast 100 Jahre ist dieser Satz alt, aber mit Blick auf Hartz-IV, das vor allem als Arbeitsmarktsanktion verstanden wird, oder auf die Verwerfungen auf dem amerikanischen Arbeitsmarkt in der Pandemie, zeigt sich, wie grundsätzlich die Frage nach Arbeit Ja/Nein ist. Brechts Satz war auch eine Reaktion auf die Dichotomie von Oben vs. Unten, die von der Arbeiterbewegung ab dem ausgehenden 19. Jahrhunderts lautstark bekämpft wurde. Ohne den Begriff zu kennen, kämpften die Gewerkschaften damals schon um Chancengleichheit. Wenn man heute sagt, dass die Gewerkschaften lange erfolgreich waren, bedeutet es auch, anzuerkennen, dass es eine Zeit gab, in der Tagelöhner völlig der Willkür des Arbeitgebers ausgeliefert war. Die Gewerkschaften haben vermocht, überhaupt erst Regeln zu etablieren — von einer durch Wohlstand automatisch generierten Moral kann insofern keine Rede sein: Ausbeutung wurde zumindest dem Fabrikant des frühen 20. Jahrhunderts genauso vorgeworfen wie (etwas amorph formuliert) heute: Amazon. Die Gewerkschaften sind auch im 21. Jahrhundert die wichtigste politische Lobbygruppe für faire Arbeitsbedingungen und Löhne (auch wenn sie, Stichwort, Cisgender, von politischen Aktivist:innen aus dem LGBTQ*-Spektrum häufig kritisiert wird). Tatsache ist: Immer noch leben wir in einer „Arbeitsgesellschaft”, deren Ende Soziolog:innen wie André Gorz seit den 1970ern fordern. Ein sicherer Arbeitsplatz ist bis heute oft die einzige Garantie für Teilhabe am öffentlichen Leben. Gorz wäre sicherlich ein lauter Vertreter des Grundeinkommens gewesen: eines Einkommens, das Existenzen sichert und soziale Teilhabe ermöglicht. Das Grundeinkommen wird je nach Perspektive als beste Antwort auf diskriminierende Tendenzen auf dem Arbeitsmarkt oder als Lohn für Faule bezeichnet. Gerade die Coronakrise hat die Debatte um ein Grundeinkommen, das Würde ermöglicht, neu entfacht.
Zugleich ist das Konzept gleicher Arbeitsbedingungen umstritten. Ist Equality oder Inequality die bessere Motivation, um Leistung zu erbringen? Wie viel Selbstverantwortung für das eigene Wohlergehen kann und muss man dem Menschen übertragen? Welches System ist besser geeignet, den Menschen zu ermächtigen: Soziale Marktwirtschaft oder Neoliberalismus? Gibt es auch zu viel Chancengleichheit im Kapitalismus, der ein geschüttelt Grundmaß an Ungleichheit in sich tragen muss, um rund zu laufen?
Chancengleich, diskrimierungsfrei, divers — es sind kämpferische Fragen, denen sich die Arbeitswelt bis heute stellt. Die #Expertcommunity von 20blue verfügt über profilierte Forscher:innen und Branchenexpert:innen, die Debatten und mögliche Antworten sichtbar machen können.