Chancengleichheit ist eine sozialpolitische Maxime. Das heißt: gleiche Startchancen und gleicher Zugang zu allen Bildungs- und Ausbildungsmöglichkeiten für alle, damit alle ihre Lebenschancen gleichermaßen wahrnehmen können. Was bedeutet das heute, in Zeiten, in denen wir (immer noch?) denken, dass jede:r alles schaffen kann? Der Amerikanische Traum lebt in vielen unserer Köpfe weiter und wird befördert durch Systeme, die uns suggerieren, jede:r sei ihres:seines eigenen Glückes Schmied. Natürlich soll und darf in Bezug auf den Lebensweg niemandem die eigene Handlungsfähigkeit und Entscheidungsmacht abgesprochen werden, doch wird das Ausmaß dieser häufig überschätzt, wenn wir vergessen, dass Menschen, die durch aktuelle politische Realitäten benachteiligt werden, häufig keine starke Lobby haben und wenig Möglichkeiten besitzen, aus ihrer Lage herauszuwachsen und Einfluss zu nehmen.
Fragen, die unser Engagement für mehr Chancengleichheit betreffen, gehen somit direkt an den Kern der Sache: Wollen wir als Gesellschaft Chancen- oder Ergebnisgleichheit? Überwiegen unsere liberalen Ziele oder sozialorientierten Vorstellungen? Stellen wir uns vor, wir befinden uns alle zusammen am Fuße einer Treppe und wollen hinauf zur Tür. Einige laufen los, schon haben sie es geschafft — aber du sitzt im Rollstuhl. Dieses Bild lässt sich auf viele gesellschaftliche Probleme und Fragestellungen übertragen, nicht nur auf die tatsächliche Barrierefreiheit. Beispielsweise sprach Bourdieu von sogenannten Habitusbarrieren, das heißt von habituellen Strukturen, die in gewissen gesellschaftlichen Milieus vorherrschen und als Kennzeichen sozialer Klassen gelten. Nach Bourdieu stellen auch diese Umgangsformen und die reine Zugehörigkeit zu einer vermeintlichen Klasse Barrieren für den sozialen Aufstieg dar.
Wie kann man diesen Tendenzen als Gesellschaft entgegenwirken? In Deutschland gibt es seit 2006 das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG), oft auch Antidiskriminierungsgesetz genannt, das Benachteiligungen unterschiedlicher Art verbietet. Die Religion, sexuelle Orientierung, das Alter, Geschlecht oder die Weltanschauung, ethnische Zugehörigkeit oder eine Behinderung dürfen beispielsweise bei einer Jobbewerbung laut Gesetz keine Rolle spielen. Und doch sieht, sagen wir die politische Personenlandschaft in Deutschland weiterhin relativ homogen (soll heißen weiß und männlich) aus — auch wenn es sicherlich einige positive Entwicklungen in Richtung mehr Diversität gegeben hat. Hier drängen sich Fragen auf, die uns auch in Zukunft interessieren müssen: Wer engagiert sich, wer kann sich überhaupt engagieren — und für wen? Wie schaffen wir Verbindungen zwischen denen, die systematisch vom politischen Prozess ausgeschlossen sind oder denen aus unterschiedlichen Gründen der Zugang zu diesem verwehrt ist? Wie lassen sich Abwärtsspiralen von sozialen und politischen Ungleichheiten in einem gesellschaftlichen Zusammenleben verhindern?