Gerade in Gesellschaften, die sich immer weiter kulturell und sozial differenzieren, werden vielfältige Möglichkeiten zur Integration und Teilhabe wichtiger. Auch in Deutschland entwickelt sich das Interesse an Politik von Jahr zu Jahr dynamisch — im langfristigen Trend steigt das Interesse. Wir wollen mitreden und uns einmischen und handeln kontinuierlich aus, wie wir unser Zusammenleben gestalten wollen. Dazu gehört auch, wie viel Einfluss wir direkt ausüben wollen und wie wir regiert und verwaltet werden wollen.
Wesentlich für aktuelle Entwicklungen sind Chancengleichheit, digitale Möglichkeiten und nachhaltige Entscheidungen:
Chancengleich engagieren
Gerade Menschen, die durch eine aktuelle politische Realität benachteiligt werden, haben häufig keine starke Lobby und wenig Möglichkeiten zur Einflussnahme. Wie lassen sich solche Abwärtsspiralen von sozialen und politischen Ungleichheiten in einem gesellschaftlichen Zusammenleben verhindern?
Chancengleichheit ist eine sozialpolitische Maxime. Das heißt: gleiche Startchancen und gleicher Zugang zu allen Bildungs- und Ausbildungsmöglichkeiten für alle, damit alle ihre Lebenschancen gleichermaßen wahrnehmen können. Was bedeutet das heute, in Zeiten, in denen wir (immer noch?) denken, dass jede:r alles schaffen kann? Der Amerikanische Traum lebt in vielen unserer Köpfe weiter und wird befördert durch Systeme, die uns suggerieren, jede:r sei ihres:seines eigenen Glückes Schmied. Natürlich soll und darf in Bezug auf den Lebensweg niemandem die eigene Handlungsfähigkeit und Entscheidungsmacht abgesprochen werden, doch wird das Ausmaß dieser häufig überschätzt, wenn wir vergessen, dass Menschen, die durch aktuelle politische Realitäten benachteiligt werden, häufig keine starke Lobby haben und wenig Möglichkeiten besitzen, aus ihrer Lage herauszuwachsen und Einfluss zu nehmen.
Fragen, die unser Engagement für mehr Chancengleichheit betreffen, gehen somit direkt an den Kern der Sache: Wollen wir als Gesellschaft Chancen- oder Ergebnisgleichheit? Überwiegen unsere liberalen Ziele oder sozialorientierten Vorstellungen? Stellen wir uns vor, wir befinden uns alle zusammen am Fuße einer Treppe und wollen hinauf zur Tür. Einige laufen los, schon haben sie es geschafft — aber du sitzt im Rollstuhl. Dieses Bild lässt sich auf viele gesellschaftliche Probleme und Fragestellungen übertragen, nicht nur auf die tatsächliche Barrierefreiheit. Beispielsweise sprach Bourdieu von sogenannten Habitusbarrieren, das heißt von habituellen Strukturen, die in gewissen gesellschaftlichen Milieus vorherrschen und als Kennzeichen sozialer Klassen gelten. Nach Bourdieu stellen auch diese Umgangsformen und die reine Zugehörigkeit zu einer vermeintlichen Klasse Barrieren für den sozialen Aufstieg dar.
Wie kann man diesen Tendenzen als Gesellschaft entgegenwirken? In Deutschland gibt es seit 2006 das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG), oft auch Antidiskriminierungsgesetz genannt, das Benachteiligungen unterschiedlicher Art verbietet. Die Religion, sexuelle Orientierung, das Alter, Geschlecht oder die Weltanschauung, ethnische Zugehörigkeit oder eine Behinderung dürfen beispielsweise bei einer Jobbewerbung laut Gesetz keine Rolle spielen. Und doch sieht, sagen wir die politische Personenlandschaft in Deutschland weiterhin relativ homogen (soll heißen weiß und männlich) aus — auch wenn es sicherlich einige positive Entwicklungen in Richtung mehr Diversität gegeben hat. Hier drängen sich Fragen auf, die uns auch in Zukunft interessieren müssen: Wer engagiert sich, wer kann sich überhaupt engagieren — und für wen? Wie schaffen wir Verbindungen zwischen denen, die systematisch vom politischen Prozess ausgeschlossen sind oder denen aus unterschiedlichen Gründen der Zugang zu diesem verwehrt ist? Wie lassen sich Abwärtsspiralen von sozialen und politischen Ungleichheiten in einem gesellschaftlichen Zusammenleben verhindern?
Nachhaltig engagieren
Politische Entscheidungen verlaufen zyklisch und orientieren sich oft nur an der aktuellen Wahlperiode und dem nächsten Wahlkampf. zu Recht haben daher gerade jüngere Generationen das Gefühl, dass Probleme, die direkt ihre Zukunft betreffen, immer häufiger auf die lange Bank geschoben werden. Wie kann ein gemeinsames Bewusstsein für eine nachhaltige Gesellschaft entstehen?
„Nachhaltige Entwicklung ist eine Entwicklung, die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, dass künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können“, schriebt die Weltkommission für Umwelt und Entwicklung im Jahr 1987. Schon damals haben wir uns das Ziel gesetzt, unseren Kindern und Enkeln eine intakte Erde samt sozial und ökonomisch funktionierendem Gefüge zu hinterlassen. Ohne Erfolg? Wenn wir von nachhaltigem Engagement sprechen, geht es nicht nur um unsere (andauernden und stetigen) Kaufentscheidungen oder unser individuelles Verhalten, sondern auch um das große Ganze: um Politik, die sich von Legislaturperiode zu Legislaturperiode bewegt und zyklisch verläuft. Politische Prozesse orientieren sich oft nur an der aktuellen Wahlperiode und dem nächsten Wahlkampf. Eine Tendenz, die der dringenden Notwendigkeit nachhaltiger Politik exakt zuwiderläuft.
Zu Recht haben daher gerade jüngere Generationen das Gefühl, dass Probleme, die direkt ihre Zukunft betreffen, immer häufiger auf die lange Bank geschoben werden. Ihre politische Macht ist begrenzt, auch wenn Bewegungen wie Fridays for Future und Extinction Rebellion gezeigt haben, dass (Umwelt-)Politik jungen Menschen sehr wohl am Herzen liegt. Sie sind politisiert wie nie, sie brachten die drohende Klimakatastrophe auf die Bildfläche und tragen weiterhin zur Bewusstseinsbildung bei. Immer häufiger war und ist aber von einem Generationenkonflikt die Rede. Bedürfnisse und Einschränkungen in persönlichen Lebensweisen werden zum Streitthema am Familientisch — und haben eine globale Dimension, die wir viel zu häufig ausblenden. Eine wesentliche Frage dabei: Wie kann ein gemeinsames Bewusstsein für eine nachhaltige Gesellschaft entstehen, über Generationen, aber auch über Ländergrenzen hinweg? Was bedeutet mein individuelles Engagement für mehr Nachhaltigkeit — für mich und für das große Ganze? Wie behält man die Hoffnung bei dem Gedanken an den Tropfen auf den heißen Stein? Ökologisch, sozial und ökonomisch stellt uns die Klimakatastrophe vor nie dagewesene Herausforderungen, die wir nur gemeinsam lösen können. Welche Handlungsfelder gehören zur Nachhaltigkeitspolitik und welche Schwerpunkte brauchen wir also, um der Kurzfristigkeit eine Absage zu erteilen?
Digital engagieren
Sowohl Staaten als auch Bürger:innen nutzen verstärkt digitale Technologien. Gerade an den Schnittstellen zwischen beiden Gruppen in Politik und Verwaltung gibt es jedoch immer wieder Kritik an unsicheren und manipulierbaren Tools. Wie lassen sich gesellschaftliche und politische Prozesse auch digital verhandeln und umsetzen?
Sommer 2014, draußen ist es heiß, doch das Internet sorgt für Abkühlung: Wir erinnern uns, die Ice-Bucket-Challenge, eine Spendenkampagne zur allgemeinen Belustigung, bei der sich Teilnehmer:innen einen vollen Eimer Eiswasser über dem Kopf ausschütten und sich dabei filmen, hat einen ernsten Zweck. Mit einer Spende für die Bekämpfung der Nervenkrankheit Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) soll einem Thema Aufmerksamkeit geschenkt werden, das sonst kaum in der Öffentlichkeit steht. Die Videos gehen viral, aber wie nachhaltig ist die Aktion? Haben wir tatsächlich etwas über die Krankheit gelernt oder doch nur noch Gänsehaut bei dem Gedanken an das Eiswasser? Digitales Engagement hat die Tendenz, sich nach kurzfristigen Trends wieder zu verflüchtigen. Zu schnell erscheint die nächste Aktion im Feed unserer sozialen Netzwerke, die zu wahren Plattformen des digitalen Engagements werden: Aktivist:innen filmen Polizeigewalt, Proteste und Demonstrationen, Videos und Fotos dokumentieren Unrecht und werden unzählige Male geteilt, Nachrichten werden bekanntgegeben und Aktionen organisiert. In vielen Ländern wird so das Handy zur Waffe gegenüber repressiven Staatsorganen und Regierungen.
In Zeiten von Corona gestaltet sich digitales Engagement dabei noch auf einer weiteren Ebene, wenn Demonstrationen aus Sicherheitsgründen nicht stattfinden können. Live-Übertragungen auf Facebook, Instagram, Twitter uvm. schaffen Abhilfe, ein Gefühl virtuellen Zusammenhalts, und sind nicht selten verbunden mit Aufrufen zu Crowdfunding-Aktionen. Plattformen wie betterplace.org bieten plötzlich Themen und sozialen Projekten Möglichkeiten für finanzielle Unterstützung, die sich vor der Digitalisierung oft gänzlich unter dem Radar bewegten. Wie verändern sich gesellschaftliche Teilhabe und freiwilliges Engagement durch die Digitalisierung? Wie können technische Innovationen dazu beitragen, das Gemeinwesen digital zu stärken und das Engagement zu erleichtern? Welche zivilgesellschaftlichen Möglichkeiten gibt es, diese digitalen Entwicklungen aktiv mitzugestalten?
Eine Voraussetzung bei alldem: die digitale Infrastruktur — auch in der öffentlichen Verwaltung. Sie muss sich dem rasanten Wandel anpassen und dabei neue digitale Strategien umsetzen, die über moderne IT-Lösungen hinausgehen — Stichwort eGovernment. Was bedeutet das konkret? Ein viel zitiertes Beispiel ist Estland: In der öffentlichen Verwaltung gibt es in Europa kaum ein Land, das seine Digitalisierung so weit vorangetrieben hat. Der estnische Staat stellt seinen Bürger:innen ca. 1.500 digitale Dienstleistungen bereit; gleichzeitig gibt die Bevölkerung sehr viele persönliche Daten in dieses System hinein. Welche Risiken gibt es bei dieser Art der Verwaltung für Bürger:innen, die immer gläserner werden? Ist das estnische Modell für ganz Europa, oder gar global so erstrebenswert wie es scheint? Und ist uns die vermeintliche bürokratische Bequemlichkeit lieber als unsere Privatsphäre? Unsichere und manipulierbare Tools in Politik und Verwaltung werden immer wieder kritisiert, nicht nur von Datenschützer:innen. Wie lassen sich gesellschaftliche und politische Prozesse auch digital verhandeln und umsetzen?