Die freie Entfaltung der Persönlichkeit ist im 2. Artikel des Deutschen Grundgesetzes festgeschrieben und ein Kernanliegen der Aufklärung und des Humanismus. Die individuelle Autonomie hat rechtliche, politische, psychologische und philosophische Dimensionen. Kreativität und Bildung sind wichtige Motoren der menschlichen Entfaltung, die im 21. Jahrhundert quer durch alle Schichten und Lebensräume stattfindet. Selbstentfaltung und Selbstbezogenheit werden dabei bisweilen verwechselt.
Digitalität, Nachhaltigkeit und Diversität beeinflussen Möglichkeiten und Debatte dabei wesentlich:
Divers entfalten
Selbststudium und der eigene DIY-Shop, Blog oder YouTube-Channel, und die berüchtigte Schwarmintelligenz: Die digitale Ära hat die Entfaltungsmöglichkeiten geradezu explodieren lassen. Beuys („Jeder Mensch ist ein Künstler”) wäre stolz auf uns. Oder doch nicht? Wie viel echte Entfaltung steckt in der zur Schau gestellten Kreativität? Und: Wie viel Business Mindset steckt in digitalen Entfaltungsangeboten?
Aus einem bestimmten Blickwinkel ist Diversity mit Entfaltung gleichzusetzen. Wenn ich (als Mensch, als Unternehmen, als Organisation) Diversität zulasse, gestatte ich meinem Gegenüber, dass er oder sie sich in seiner Individualität zeigt. Indem ich selbst divers denke und handle, ermögliche ich mir und anderen, sich zu entfalten. Das eröffnet neue Möglichkeitsräume jenseits des Mainstreams. Gleichzeitig kann die sich ausbreitende Forderung nach Diversity auch als Krise der Entfaltung gelesen werden. Obwohl wir, im Vergleich zur Zivilisation vor hundert oder gar tausend Jahren, wesentlich freier und flexibler leben, und in der Lage sind, verschiedene Lebensentwürfe nebeneinander zu diskutieren, werden wir Zeug:innen eines weltweit aufkeimenden Populismus. Verschiedene Anspruchsgruppen überbieten sich in ihrem „Ich bin dran”.
Francis Fukuyama, der zu viel Selbstverwirklichung gar als Gefahr für die Demokratie sieht, schreibt: „The rise of the therapeutic model midwifed the birth of modern identity politics”. Die Diskussion zur Identitätspolitik, die in sämtlichen politischen Schattierungen vorherrscht und in den meisten, nicht autokratisch regierten Ländern dieser Welt geführt wird, bedroht das Recht auf Entfaltung im gleichen Maße, wie sie sie erst ermöglicht.
Eine wichtige und wohl nur situativ zu beantwortende Frage ist daher: Wie viel Diversität verträgt die Menschheit? Wo endet das Persönlichkeitsrecht auf individuelle Selbstentfaltung und wo beginnt der häufig beschriebene Gesinnungsterror einer einzelnen, kleinen Gruppe? Ob und wie wir unseren inneren Impulsen folgend, einen Weg suchen und beschreiten können, den wir für genau uns für genau richtig empfinden — das ist oft auch eine Frage des Geldbeutels. Und der Fähigkeit zur Selbst-Reflexion. Das Konzept der Entfaltung kennt also auch Verlierer:innen: Menschen, die sich von der (Sehn-)Sucht nach Selbstbefreiung überfordert fühlen; Menschen, denen schlicht die materiellen Mittel fehlen. Entfaltung ist ein Grundrecht jeder Person. Aber wirksam wird sie nur im gegenseitigen Respekt von Grenzen. Im humanistischen Konzept von Entfaltung ist dies durchaus angelegt.
Nachhaltig entfalten
Wie viel Demut verträgt Entfaltung? Stehe ich der erhabenen Natur staunend gegenüber? Oder entfalte ich mich, indem ich sie überwinde? In der Hochphase des Liberalismus schien die Natur eher Gegner als Freund des Menschen. Die Klimakatastrophe hat die Harmonie von Mensch und Natur wieder ins Zentrum des Bewusstseins gerückt — nicht nur Radfahrerin und Yogalehrer, Waldemerit oder Bildhauerin, auch die Aktivist:innen von #FridayForFutures, Anhänger von Frugalismus oder Ethic Hackers sind Personengruppen, die ihre persönliche Autonomie (auch) über Nachhaltigkeit definieren.
Die Erotik des Verzichts ist in unserem Alltag angekommen. Minimalismus und Frugalismus sind regelmäßigen Leser:innen von Mainstream-Medien ein Begriff. Das ist bemerkenswert. Denn Entfaltung und Selbstermächtigung mit der Natur zu denken, bedeutet Einschränkung. Freilich war die Entgrenzung, mit der wir einige Jahrzehnte sprichwörtlich ohne Rücksicht auf Verluste gelebt haben, wohl eher die Ausnahme. Dass die Natur mächtiger ist als wir, und wir nicht gegen sie, sondern nur mit ihr leben können, war über viele Jahrhunderte unbestritten. Die Besteigung des französischen Mont Ventoux von Frances Petrarca 1336 markiert den (uns bekannten) neuzeitlichen Beginn einer Naturbetrachtung, in der die Betrachtung selbst zum Gegenstand wird. Oder anders gesagt: Die Natur wird zur Metapher eigener Empfindungen. Das Staunen über die Erhabenheit der Natur — das auch religiös intendiert sein kann — geriet zunehmend in Vergessenheit, als Maschinen erfunden wurden und aus dem undurchdringlichen Dickicht der Natur Eisenbahnschienen, Industrieschlote und später auch abenteuerhungrige Tourist:innen quollen.
Das Tourismus-Beispiel, ein gängiges Entfaltungsmomentum für viele, zeigt den Unterschied zwischen religiösen Menschen, Künstler:innen, Naturfreaks und Wissenschaftler:innen, die staunend, demütig und bisweilen fröstelnd vor so viel kosmischer Gleichmütigkeit der Natur gegenüber treten, und unserer pippi-langstrumpfesken Selbstentfaltungs-Performance, die in 30 Tage Urlaub gequetscht werden. An der veränderten Sicht auf das Reisen lässt sich zugleich gut ablesen, wie Entfaltung zumindest in den westlichen Gesellschaften mittlerweile definiert wird: Trendsetter:in ist heute nicht mehr, wer am häufigsten am weitesten fliegt. Backpacking und digitales Nomadentum gibt es schon länger, aber durch die Klimakrise drängt sich die Frage auf, ob häufiges (und weites) Verreisen bei der enormen Umweltbelastung wirklich der Schlüssel zu unserer individuellen Selbstentfaltung sein kann. Wie viel Abstand zu meinem Alltag brauche ich eigentlich, um bei mir zu sein? Wie viele Entfaltungsmöglichkeiten gibt es in meinem nahen Umfeld? Was ist in mir, das ich entfalten möchte — durch Erkundungen des Nahraumes, künstlerische Aktivität, Meditation, Freundschaft oder Ehrenamt? Die Nachhaltigkeitsdebatte hat, zumal vor dem stets dräuenden Lockdown in der Coronakrise, neue Formen der Entfaltungsmöglichkeiten hervorgebracht — die in mancherlei Hinsicht an alte Konzepte anknüpfen.
Digital entfalten
Die persönliche Autonomie und Selbstentfaltung ist immer mehr Menschen zugänglich. In autokratischen Systemen gehen Menschen auf die Straße, um für ein System zu demonstrieren, das ihnen mehr persönliche Autonomie und Selbstverwirklichung gewährt. Mehr Bildung und Teilhabemöglichkeiten fördern die Entfaltungsmöglichkeiten — zugleich geraten sie dabei an Grenzen: Wo ich mich entfalte, kann es eine andere Person nicht mehr. Ist Entfaltung für alle realistisch?
24/7/365 ist auch ein Akronym unserer ständigen Verfügbarkeit. Und wir haben sie uns zunutze gemacht. Always on sind wir schließlich nicht für unsere Arbeitgeber:innen, sondern weil wir auch außerhalb der Geschäftszeiten Zerstreuung suchen oder uns äußern wollen. Wir sind online, wir sind sichtbar — in Wort, Ton und Bild. Follower:innen heben und senken den Daumen. Ob das wirklich Entfaltung ist, sei dahingestellt. Aber nicht wenige haben nach Jahren passiven News-Konsums eine neue Passion entdeckt: als Fotograf:in, Video-Produzent:in, Podcaster:in oder auch Maler:in, Literat:in oder Musiker:in. Im Close-Up erleben wir als Zuschauer:innen Freud und Leid dieser digitalen Kreativität; wir sehen junge Menschen beim großen Auftritt straucheln und ältere bei ihrem ersten Bühnenmoment jubeln. Die digitale Privatwelt ist plötzlich voller Entfaltungsmomente. Und auch in der lautesten Kritik liegt ein Hauch von Anerkennung, dass der Mensch von heute sich traut, seinen inneren Empfindungen spontan Raum zu verschaffen. Die Frage, was Entfaltung sei, stellt der digitale Raum neu: Der vielbeschworene Flow, in der eine Aktivität — wie diesen Text hier zu schreiben — plötzlich jeder Anstrengung enthoben ist, weil man aus einer inneren Quelle schöpft. Die spontane Neuerfindung der eigenen Identität, die die Generation des linearen Fernsehen überfordert, den Streaming-Erfahrenen unter uns (aka: Millennials und Gen Z(ero)) aber vollkommen normal erscheint. Wir leben frei — nach Shakespeare: As you like it. Der digitale Raum ist chancenreicher und diverser, und wenn die angestrebte Selbstverwirklichung krasser ist als die Wirklichkeit, die man im real life präsentieren will — lebt man im Netz anonym.
Digitale Entfaltung hat die Mammutaufgabe, seinen Wesenszweck zu erkennen und danach zu leben, in etwas Fluides, Leichtes, Egalitäres verwandelt. Jede:r — mit einem Internetanschluss — kann, wenn er oder sie mag. Noch nicht geklärt ist die Frage, ob wir zu Exzellenz fähig sind, denn die Dauerpräsenz radiert einen wesentlichen Aspekt aus: den Rückzug und das Warten auf das Große.