Gesundheit und Pflege, Ernährung und Fitness, Wellness und Achtsamkeit: Körperliche und geistige Erholung stehen hoch im Kurs. Die Gesundheitspolitik in Deutschland gilt im internationalen Vergleich als relativ fair. Ob und wie jede:r Einzelne sich wiederum erholen kann, will und darf, steht auf einem anderen Blatt. Drei Perspektiven sind maßgeblich:
Digital erholen
Der technologische Sprung ändert unser Verhältnis zu Gesundheit und Erholung: Hier die Vernetzung von Gesundheitsakteur:innen, Stichwort E-Health, da die Explosion von Fitness-Apps und Wearables. Ist unsere Gesundheit so digital wie wir? Macht digitale Gesundheit gesünder? Oder genau anders herum: Ist Digital Detox die einzig wahre Erholung?
Deutschland ist im europäischen und US-amerikanischen Vergleich Schlusslicht in der Digitalisierung des Gesundheitswesens. Wiewohl Gesundheitsminister Spahn das Thema seit Amtsantritt so energisch wie kein Gesundheitsminister vor ihm vorantreibt, sind Länder wie Estland, Dänemark oder Israel uns Jahre voraus. Woran liegt das? Nach einer Studie der Bertelsmann Stiftung von 2019 entscheiden drei wichtige Erfolgsfaktoren über den nationalen Reifegrad von Digital Health: eine politisch konsequente, geplante Umsetzung, basale technische Voraussetzungen (Digital-Health-Readiness) und die effektive Nutzung der digitalen Daten(-ströme). Während also in Kanada oder Spanien medizinische Daten längst digital getauscht werden, war der Versand von Arztbriefen per Fax bis Juli 2020 in Deutschland eine abrechnungsfähige medizinische Dienstleistung. Während in Dänemark längst eine zentrale Gesundheitsdaten-Plattform etabliert ist, auf die Patient:innen und Ärzt:innen gleichermaßen Zugriff haben, hat Deutschland sich über Jahre einen heißen Kampf um die Frage geliefert, ob ein in einer Arztpraxis stehender Aktenschrank oder eine mit VPN-Technologie gesicherte Datenautobahn der bessere Ort für sensible Gesundheitsdaten ist. Und während die Einführung des E-Rezepts – wie fast alle wichtigen Fachanwendungen der deutschen Telematikinfrastruktur (TI) – zum wiederholten Male verschoben werden musste, ist der Datentausch zwischen medizinischen Akteur:innen in einem Land wie Estland seit Jahren zu 100% digital. Möglicherweise lässt sich der gordische Knoten jetzt zerschlagen: Die Corona-Pandemie hat die Notwendigkeit einer vernetzten Gesundheitsbranche allen vor Augen geführt — letzte Fragen zur Datensicherheit und Praktikabilität der digitalen Infrastruktur für den medizinischen Datentausch müssen also zeitnah geklärt werden. Ab 2021 werden mit Einführung von KIM (dem sicheren E-Mail-Client), von E-Rezept und ePA (elektronischer Patientenakte) möglicherweise die Vorzüge der Digitalisierung des Gesundheitswesens sicht- und greifbar für alle Anspruchsgruppen.
Im nicht-regulierten Markt für Gesundheitsanwendungen sieht die Sache ganz anders aus: Health und Wellness Apps sind schon seit einigen Jahren etabliert. Bestimmte Nutzertypen verwenden digitale Angebote, um ihren Alltag sportlicher oder ausgeglichener zu gestalten: Smartphone-Apps von Joga bis Jogging sind Helfershelfer für mehr Fitness und Erholung im Alltag, und damit für bessere Gesundheit. Diese Alltagsbegleiter sind nicht selten über den Facebook-Account vernetzt, der Datenkrake schlechthin. Das ist insofern bemerkenswert, als dass die Debatte um den Datenschutz medizinischer Daten im regulierten Gesundheitsmarkt teilweise erbittert geführt wird, wohingegen Nutzer:innen (bzw. Patient:innen) im privaten Bereich relativ freizügig sind, ihre Daten zu teilen. Werden diese beiden Bereiche von den Menschen möglicherweise separat betrachtet? Wie viele Dimensionen von Gesundheit gibt es für uns und inwieweit beeinflussen sie meine Entscheidung, mit wem ich diese Daten teile? Möglicherweise wird die Debatte um die Datensouveränität, die auch im Bereich Konsum eine wesentliche Rolle spielt, diese Datenschutzdebatte noch einmal verändern – auch zugunsten des deutschen E-Health-Angebots, in dem die Patient:innen von Anfang als Datensouverän mitgedacht worden sind. Digital erholen? Für manche ein Widerspruch: „Netflix & Chill“, „Smombie” — für die negativen Auswirkungen der Abhängigkeit vom Digitalen in der Freizeit sind in den letzten Jahren viele Begriffe entstanden. Der Weg zur geistig-seelischen Erholung findet für viele immer noch offline statt. Digital Detox, der Spaziergang durch den Wald, das selbstvergessene Bauklötzchen-Spiel des Kindes, der Paar-Abend im Restaurant – besonders private Erholung wird nach wie vor auch analog buchstabiert. Die Online-Abhängigkeit besonders bei Kindern und Jugendlichen bereitet vielen Eltern und Ärzt:innen Sorgen – die Langzeitwirkungen sind noch nicht abzuschätzen. Digital erholen und Digital Detox werden auf absehbare Zeit aber wohl Gegensatzpaare bleiben.
Nachhaltig erholen
Die Einheit von Körper, Geist und Seele ist seit Menschengedenken ein Thema. Gerade in den letzten Jahren bekriegen sich Anhänger:innen evidenzbasierter und ganzheitlicher Medizin geradezu: Wie nachhaltig kann Schulmedizin sein? Inwieweit sind die Erfolge alternativer Medizin messbar?
Die Fronten zwischen ganzheitlicher und evidenzbasierter Medizin (EbM) haben sich in den letzten Jahren verschärft. Beide Seiten arbeiten gerne mit Klischees: Das Bild vom wütenden Impfgegner auf der einen Seite, das Bild von der pillenfixierten Medizinerin auf der anderen. Die Wirksamkeit wissenschaftlich erwiesener Therapieformen bei der Bekämpfung schwerer Krankheiten und die Wirksamkeit ganzheitlicher Therapieformen bei der Aktivierung der Selbstheilungskräfte, auch seelischer Natur, wird im Fachdiskurs nicht rundweg abgelehnt. Allerdings mit eindeutiger Hierarchie: Medizin, in der beispielsweise pflanzliche Extrakte die Selbstheilungskräfte aktivieren, sind von der Deutschen Krebsforschung anerkannt, werden aber als „komplementäre Medizin“ bezeichnet. Kopfzerbrechen bereitet vielen universitär ausgebildeten Heilberufler:innen, wie viele Menschen, gerade in Deutschland, mittlerweile der alternativen Medizin anhängen: Einer medizinischen Praxis, die die „Schulmedizin“ grundsätzlich ablehnt und auf rein pflanzliche und homöopathische Mittel vertraut.
Hildegard von Bingen, Christian Friedrich Samuel Hahnemann und Rudolf Steiner sind einige prominente deutsche Erfinder:innen ganzheitlicher Therapieformen. Anthroposophische oder integrative Heilkonzepte verweisen gerne auf sie. Auf der anderen Seite stehen deutsche medizinische Pioniere wie Rudolf Virchow, Robert Koch oder Ferdinand Sauerbruch, die wissenschaftliche Perspektiven in die Medizin brachten. Sie sind Teil der europäischen medizinischen Revolution im 19. und 20. Jahrhundert, als die Lehre von Körpersäften nach und nach durch wissenschaftliche, also reproduzier- und beweisbare Diagnose- und Heilmethoden ersetzt wurde. Die verhärteten Fronten lassen sich also möglicherweise auch historisch begründen.
Die Motive, ganzheitliche Medizin neben oder sogar über evidenzbasierte Medizin zu stellen, sind unterschiedlich: Glaube, der persönliche Erfahrungsschatz („das hat mir geholfen!”), der Verweis auf uralte medizinische Prinzipien (beispielsweise wird oft die chinesische Medizin zitiert, wenn es um eine ganzheitliche Medizin geht, die den wissenschaftlichen Wirksamkeitsnachweis nicht scheuen muss), das Ablehnen chemischer Substanzen, das Gefühl von Unwissen oder Machtlosigkeit gegenüber den vorgeschlagenen Therapieformen, Kritik gegenüber der sogenannten Pharmalobby oder schlichtweg schlechte Erfahrung mit schulmedizinischen Behandlungen. Nur selten sind es wissenschaftliche Studien selbst, die die Wirksamkeit ganzheitlicher Therapien bestätigen. Diese sind in Deutschland aber maßgeblich für die Zulassung von Medikamenten: Der Gemeinsame Bundesausschuss (GBA) tagt zwei Mal im Monat, um über die Zulassung von Medikamenten zu entscheiden – und die Hürden sind enorm hoch. Am Beispiel der Corona-Medikamente zeigen sich die Mechanismen von Forschung und Entwicklung in der medizinischen Forschung — es sind in der Regel langwierige und komplexe Prozesse, bis ein wissenschaftlich erprobtes Medikament seine Wirksamkeit erweist.
Wissenschaftliche Bestätigung brauchen ganzheitliche Medizinansätze in den Augen der Befürworter:innen nicht – es gibt in Deutschland bislang keine staatlich anerkannte Ausbildung für ganzheitliche Therapieformen und kaum evidenzbasierte Nachweise. Die Anerkennung der Heilpraktiker:innen-Ausbildung wird seit Jahren heftig diskutiert. Überzeugte Patient:innen stört das aber selten: der Verweis auf „erwiesenermaßen” wirksame Therapien genügt ihnen. In der digitalen Ära ist das Internet voll mit Gesundheitsportalen und Blogs betroffener Kranker, und es ist für den Laien nur schwer erkennbar, wie seriös die angebotenen Medieninhalte und praktischen Angebote sind. Es gibt zwar durchaus Binnendifferenzierungen, welcher alternativen Medizinform Patient:innen Vertrauen schenken und welcher nicht. Weil aber ganzheitliche Ansätze vor allem narrativ begründet werden statt wissenschaftlich, gibt es kaum Verständigungsmöglichkeiten zwischen beiden Bereichen.
Inwieweit kann in der Medizin Erfahrung eine Rolle spielen? Die neuere, evidenzbasierte Methode lehnt dies ab – nur zweifelsfrei, also über randomisierte Studien nachgewiesene Erkenntnisse, gelten. Obwohl die so nachgewiesenen Therapieempfehlungen nicht selten hinter denen bleiben, die eine erfahrene Ärztin ausspricht. Eine Kernfrage der Debatte wird bleiben: Wie viel ist ärztliche Erfahrung wert? Kann eine gute, auf Erfahrung basierende Anamnese dazu beitragen, dass die jeweils beste Therapieform zur nachhaltigen Gesundung und Erholung ausgewählt wird? Kann ein gutes Verhältnis zwischen Mediziner:in und Patient:in die Heilung beschleunigen, weil er oder sie es vermag, die – unbestreitbar wichtigen – Selbstheilungskräfte des bzw. der Kranken zu aktivieren? Klassische medizinische Therapie hat die physische Gesundung im Blick. Aber hat sie auch die nachhaltige Erholung im Blick? Für die Menschen ist dies ein wichtiger Aspekt von Gesundheit – es wäre wünschenswert, wenn klarer wäre, welche alternativen Angebote der nachhaltigen Erholung wirklich dienlich sind. Dafür müssten aber Gräben überwunden werden. Insbesondere in asiatischen Ländern gibt es dafür Vorbilder, wie High-Tech-Medizin und uraltes Medizinwissen für die beste Erholung des Menschen kombiniert werden können.
Chancengleich erholen
Deutschland ist im Vergleich zu anderen Ländern weit voraus, den Zugang zu medizinischen Leistungen relativ barrierearm zu gestatten. Alles jedoch, was zur Erholung beitragen kann, bleibt Einkommensschwachen verwehrt. Woran liegt das — und lässt sich das ändern? Und wie weit ist die Medizin darin, diverse Therapieformate zu entwickeln?
Sie wohnen in Deutschland? Glück gehabt! Das Gesundheitssystem von Deutschland ist, ähnlich wie das von Japan oder der Schweiz, finanziell und personell vergleichsweise gut ausgestattet – und es ist für alle Deutsche und Personen mit gültiger Aufenthaltserlaubnis zugänglich. Das deutsche öffentliche Gesundheitswesen, ein Erbe Bismarcks, mag in Sachen Digitalisierung hinterherhinken. Aber wer schon einmal länger im Ausland gelebt hat oder überlegt auszuwandern, weiß: Dem deutschen Gesundheitssystem folgt kein anderes so schnell.
Keine:r in Deutschland muss – das sieht in den beiden führenden Volkswirtschaften, den USA und China, aber auch in Russland oder Kanada, ganz anders aus – fürchten, dass er oder sie bei einer ernsthaften Erkrankung nicht behandelt wird oder die Behandlungskosten komplett selbst übernehmen muss. In Deutschland zahlt die Agentur für Arbeit die Krankenkassenbeiträge, sogar Selbstständige mit privater Krankenkasse werden bei Erwerbslosigkeit unterstützt.
Das System trägt sich auch deshalb, weil hart um die Erstattungswürdigkeit von Medikamenten und Therapien gerungen wird. Mit teilweise fragwürdigen Ergebnissen: Schon seit Jahren wird der Brillenkauf nur noch bei Kindern oder sehr stark sehbehinderten Personen unterstützt und viele Krebsvorsorge-Untersuchungen müssen Patient:innen aus eigener Tasche berappen. Ganz zu schweigen von Angeboten für das psychisch-seelische Wohlbefinden – jenseits klassischer Reha- und Kurangebote, die der Gesundung gelten, sind Wellness-Angebote für einkommensschwache Gruppen nicht zugänglich. Ein hohes Maß an Fitness und Achtsamkeit kann aber der entscheidende Unterschied im Leben eines Menschen sein, der über Erfolg und Misserfolg entscheidet.
Nicht nur die Patient:innen, auch die Ärzt:innen, Therapeut:innen und Krankenhäuser müssen für die Aufrechterhaltung des öffentlichen Gesundheitswesen in seiner jetzigen Form Verzichtsübungen leisten. Zankapfel sind die oft als unzureichend bezeichneten Gebührenverordnungen für die verschiedenen Heilberufe. Dazu kommen Krankenhaus-Ärzt:innen, die wegen Personalmangel zu viele Überstunden leisten, Hebammen, die sich ihre Versicherungen nicht mehr leisten können und Hausärzt:innen, die Leistungen erbringen, die sie nicht mehr abrechnen können. In der Coronakrise zeigte sich, dass Deutschland den internationalen Vergleich nach wie vor nicht scheuen muss. Trotzdem bleibt abzuwarten, ob – auch angesichts der demographischen Entwicklung einer immer älter werdenden, latent aber kränkeren Gesellschaft – der Zugang für alle langfristig gewährleistet werden kann. Das hohe Gut einer relativ chancengleichen Gesundheitsversorgung gilt es zu verteidigen. Die Digitalisierung ist hier eine nützliche Helferin: Telemedizinische Behandlungen könnten das oft überfüllte Wartezimmer besser bändigen oder Versorgungslücken auf dem Land stopfen. Die Vernetzung von Gesundheitsdaten und -akteur:innen wird Diagnosen vermutlich besser machen. Nur dann kann sie sich der Kür zuwenden: einer chancengleichen Medizin als personalisierte Medizin, also einer den individuellen Patient:innen gewidmete Versorgungsleistung. Dafür muss auch diverser gedacht werden – der Normpatient für Medikamentenforschung war zu lange weiß, normalgewichtig und männlich.