Die Fronten zwischen ganzheitlicher und evidenzbasierter Medizin (EbM) haben sich in den letzten Jahren verschärft. Beide Seiten arbeiten gerne mit Klischees: Das Bild vom wütenden Impfgegner auf der einen Seite, das Bild von der pillenfixierten Medizinerin auf der anderen. Die Wirksamkeit wissenschaftlich erwiesener Therapieformen bei der Bekämpfung schwerer Krankheiten und die Wirksamkeit ganzheitlicher Therapieformen bei der Aktivierung der Selbstheilungskräfte, auch seelischer Natur, wird im Fachdiskurs nicht rundweg abgelehnt. Allerdings mit eindeutiger Hierarchie: Medizin, in der beispielsweise pflanzliche Extrakte die Selbstheilungskräfte aktivieren, sind von der Deutschen Krebsforschung anerkannt, werden aber als „komplementäre Medizin“ bezeichnet.
Kopfzerbrechen bereitet vielen universitär ausgebildeten Heilberufler:innen, wie viele Menschen, gerade in Deutschland, mittlerweile der alternativen Medizin anhängen: Einer medizinischen Praxis, die die „Schulmedizin“ grundsätzlich ablehnt und auf rein pflanzliche und homöopathische Mittel vertraut.
Hildegard von Bingen, Christian Friedrich Samuel Hahnemann und Rudolf Steiner sind einige prominente deutsche Erfinder:innen ganzheitlicher Therapieformen. Anthroposophische oder integrative Heilkonzepte verweisen gerne auf sie. Auf der anderen Seite stehen deutsche medizinische Pioniere wie Rudolf Virchow, Robert Koch oder Ferdinand Sauerbruch, die wissenschaftliche Perspektiven in die Medizin brachten. Sie sind Teil der europäischen medizinischen Revolution im 19. und 20. Jahrhundert, als die Lehre von Körpersäften nach und nach durch wissenschaftliche, also reproduzier- und beweisbare Diagnose- und Heilmethoden ersetzt wurde. Die verhärteten Fronten lassen sich also möglicherweise auch historisch begründen.
Die Motive, ganzheitliche Medizin neben oder sogar über evidenzbasierte Medizin zu stellen, sind unterschiedlich: Glaube, der persönliche Erfahrungsschatz („das hat mir geholfen!”), der Verweis auf uralte medizinische Prinzipien (beispielsweise wird oft die chinesische Medizin zitiert, wenn es um eine ganzheitliche Medizin geht, die den wissenschaftlichen Wirksamkeitsnachweis nicht scheuen muss), das Ablehnen chemischer Substanzen, das Gefühl von Unwissen oder Machtlosigkeit gegenüber den vorgeschlagenen Therapieformen, Kritik gegenüber der sogenannten Pharmalobby oder schlichtweg schlechte Erfahrung mit schulmedizinischen Behandlungen. Nur selten sind es wissenschaftliche Studien selbst, die die Wirksamkeit ganzheitlicher Therapien bestätigen. Diese sind in Deutschland aber maßgeblich für die Zulassung von Medikamenten: Der Gemeinsame Bundesausschuss (GBA) tagt zwei Mal im Monat, um über die Zulassung von Medikamenten zu entscheiden – und die Hürden sind enorm hoch. Am Beispiel der Corona-Medikamente zeigen sich die Mechanismen von Forschung und Entwicklung in der medizinischen Forschung — es sind in der Regel langwierige und komplexe Prozesse, bis ein wissenschaftlich erprobtes Medikament seine Wirksamkeit erweist.
Wissenschaftliche Bestätigung brauchen ganzheitliche Medizinansätze in den Augen der Befürworter:innen nicht – es gibt in Deutschland bislang keine staatlich anerkannte Ausbildung für ganzheitliche Therapieformen und kaum evidenzbasierte Nachweise. Die Anerkennung der Heilpraktiker:innen-Ausbildung wird seit Jahren heftig diskutiert. Überzeugte Patient:innen stört das aber selten: der Verweis auf „erwiesenermaßen” wirksame Therapien genügt ihnen. In der digitalen Ära ist das Internet voll mit Gesundheitsportalen und Blogs betroffener Kranker, und es ist für den Laien nur schwer erkennbar, wie seriös die angebotenen Medieninhalte und praktischen Angebote sind. Es gibt zwar durchaus Binnendifferenzierungen, welcher alternativen Medizinform Patient:innen Vertrauen schenken und welcher nicht. Weil aber ganzheitliche Ansätze vor allem narrativ begründet werden statt wissenschaftlich, gibt es kaum Verständigungsmöglichkeiten zwischen beiden Bereichen.
Inwieweit kann in der Medizin Erfahrung eine Rolle spielen? Die neuere, evidenzbasierte Methode lehnt dies ab – nur zweifelsfrei, also über randomisierte Studien nachgewiesene Erkenntnisse, gelten. Obwohl die so nachgewiesenen Therapieempfehlungen nicht selten hinter denen bleiben, die eine erfahrene Ärztin ausspricht. Eine Kernfrage der Debatte wird bleiben: Wie viel ist ärztliche Erfahrung wert? Kann eine gute, auf Erfahrung basierende Anamnese dazu beitragen, dass die jeweils beste Therapieform zur nachhaltigen Gesundung und Erholung ausgewählt wird? Kann ein gutes Verhältnis zwischen Mediziner:in und Patient:in die Heilung beschleunigen, weil er oder sie es vermag, die – unbestreitbar wichtigen – Selbstheilungskräfte des bzw. der Kranken zu aktivieren?
Klassische medizinische Therapie hat die physische Gesundung im Blick. Aber hat sie auch die nachhaltige Erholung im Blick? Für die Menschen ist dies ein wichtiger Aspekt von Gesundheit – es wäre wünschenswert, wenn klarer wäre, welche alternativen Angebote der nachhaltigen Erholung wirklich dienlich sind. Dafür müssten aber Gräben überwunden werden. Insbesondere in asiatischen Ländern gibt es dafür Vorbilder, wie High-Tech-Medizin und uraltes Medizinwissen für die beste Erholung des Menschen kombiniert werden können.