Kolumne // Mutschler meint: Herr Klarkannichdas und seine wüste Ahnung
Anja Mutschler , 01.06.2014

... oder: Warum Ahnung haben ein recht komfortabler Zustand ist
Kinder meinen, dass sie schon von voll viel Ahnung haben. Dieser Wissensvorsprung, der ja manchmal echt ist, wird munter auf jede Situation übertragen: Weil ICH weiß, wie viele Kanten ein Würfel hat, kann ich auch den Baum ganz nach oben klettern. Weil ICH weiß, was der Unterschied zwischen Dinkel und Gerste ist, kann ich auch ganz spät ins Bett gehen.
In der derzeitigen Wissens-Debatte (ausgelöst von Richard David Precht) konnten wir unsere Erinnerung daran auffrischen, dass wir die Details unserer Erkenntnisse ganz schön schnell wieder vergessen, wenn wir das Wissen nicht mehr brauchen (neu für manche Generation ist, dass das gar nicht schlimm sei). Oder in den Worten meines Sohnes: „Boah, Mama, Getreide! Das ist doch jetzt schon wieder 6 Wochen her!“
An der französischen Kaderschmiede Sciences Politiques in Paris habe ich aber auch gelernt, dass unser Wissen nützlich „für jede Cocktailparty“ sein müsse. Die dort gelehrte Ahnung war natürlich das Kondensat vieler wissenschaftlicher Erkenntnisse und die Leichtigkeit, die man dem Wissen beimischen wollte, eine Art Höflichkeitscodex, sich bitteschön nicht neunmalschlau in den Vordergrund zu drängen. Aber die deutsche Wissenschaftlerin in mir fand das damals reichlich oberflächlich.
Trotzdem bleiben eine erquickliche Anzahl Ahnungen übrig am Ende einer akademischen Karriere. Man hat sie dann, die ganz persönliche Komfortzone des Wissens, eine Ahnungsaura, die je nach Job auch zu einer Aurora werden kann. Erstmal ist das ja schön: Weil wir über so vieles Ahnung haben, können wir immer mitreden (haben wir das von unseren Kindern geerbt?).
Nehmen wir an, wir unterhalten uns im beruflichen Kontext mit einer Person über Kaugummis. Kautschuk, Südamerika, amerikanische Besatzung, Ästhetik des Essens, Singapur, gibt es eigentlich schöne Kaugummis, gibt es eigentlich Bio-Kaugummis, Afrika, aus was besteht so ein Kaugummi überhaupt, Zucker, und wer stellt den her, gibt es die Bilderberg-Konferenz für Kaugummi, Korruption, wie heißt der in anderen Ländern überhaupt?
Ein heiteres Spiel bis zu der Frage: Ich habe eine Idee für eine tolle Kaugummikampagne. Ich habe irgendwo gelesen, in England dürften Frauen keine Schokolade in Bussen essen. Das ist doch ein toller Hook für eine Imagekampagne, sowas wie „Keine Schokolade… aber Kaugummi.“ Können Sie mir da helfen?
Ich schätze, eine wilde Mischung aus Psychologie und Vertriebssinn ist am Werk, wenn Menschen dann sagen: Klar kann ich das, obwohl sie in der oben genannten Assoziationskette höchstens bis Singapur wirklich mitreden konnten. Der Rest: wüste Ahnung. Funktioniert nur after work ganz gut.
Im Berufskontext hätte man vielleicht gerne die Telefonnummer von Nimirum gehabt, die Experten für allerlei haben oder finden. Der oder die hätte erstens schnell rausgefunden, dass es KEIN Gesetz in England gibt, das armen Engländerinnen verbietet, Schokolade zu essen. Und dass man in Singapur schon zehn Jahre unter gesundheitlichen Aspekten Kaugummi kauen darf.
Ich ahne übrigens: Den inneren Klarkannichdas abzustellen wird mit den Jahren leichter. Das hab ich meinen Kindern aber noch nicht gesagt.
P.S. Wer mehr wissen will zum Kaugummi, darf mich gerne fragen. Den Experten dafür finden wir.
Nächstes Mal: Warum Experten ein Reputationsproblem haben (können)
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