Wie konservativ ist "der Fortschritt"? - Expertenbeitrag zum Mythos Fortschritt

Peter Pichler , 22.09.2015

Konservativ und Fortschritt, zwei Begriffe, die man meist nur als Gegensätze wahrnimmt. Doch wie fortschrittlich ist der Gedanke vom Fortschritt wirklich? Unser Nimirum-Experte, der Historiker Dr. Peter Pichler, geht dem Mythos auf den Grund.

„Fortschritt“ ist für die meisten Menschen ein permanentes Offen-Sein für Neues: neue Technologien, neue Formen des Zusammenlebens, neue Optionen. Fortschritt heißt, wir holen etwas ein, was eben noch in der Zukunft lag. Aber ist das wirklich so?

Wer genau hinschaut, muss zu dem überraschenden Ergebnis kommen: Fortschritt ist eigentlich etwas sehr Konservatives.

Wie kann das sein? Machen wir eine Bestandsaufnahme: Zur Idee des Fortschritts gehört das Ziel, durch möglichst rationale Mittel möglichst viele Menschen möglichst glücklich werden zu lassen. Die Spannweite dieser Mittel ist groß: Demokratie schafft Beteiligungsmöglichkeiten, Liberalismus zeugt von Toleranz, Industrialisierung und Digitalisierung schaffen Arbeitsplätze und sichern den Lebensstandard ab, Massenmedien sorgen für Unterhaltung. All das gehört zu unserem fortschrittsfreundlichen Alltag.

Allerdings ist fast nichts davon wirklich neu. Das meiste gehört zur Grundausstattung der Moderne und entstand zwischen 1750 und 1850. Der deutsche Historiker Reinhart Koselleck nannte diese Zeit die „Sattelzeit“. Wie auf einem Bergsattel ging man laut Koselleck um 1800 von einer Sphäre in eine andere über.

Zur Moderne gehört seit 200 Jahren eine bestimmte Vorstellung von uns und der Welt. Wir nehmen an, dass wir die Welt durch umfassende Rationalität immer besser machen können.

Der „Fortschritt“ ist also kein alternativloses Geschehen, dem wir uns unterordnen müssen. Er ist eher ein orientierendes Programm, das vor etwa 250 Jahren erdacht wurde und sich als Ideal des „Westens“ etabliert hat.

Überraschend ist vor allem, dass zu diesem Programm heute eigentlich ein konservatives Denken gehört: Der „Fortschritt“ ist ein wichtiger gesellschaftlicher Kitt geworden, der den „Westen“ zusammenhält. Seine Aufgabe ist heute vor allem, uns Orientierung zu stiften und uns Selbstvergewisserung zu ermöglichen. Mit einem Wort: Der „Fortschritt“ ist zum Mythos geworden, zu einer großen Story, die wir einander erzählen, um unsere eigene Kultur zu bewahren.

Wenn wir den „Fortschritt“ nicht als Naturgesetz, sondern als unsere eigene, spezifische Weltsicht betrachten, können wir in Zeiten der digitalen Globalisierung unsere Handlungsspielräume im interkulturellen Kontakt genauer einschätzen.

Unser Experte

Orientierungswissen wie dieses kann ich durch die Arbeit bei Nimirum auf Höhe des aktuellen Forschungsstandes nach individuellen Kunden-Bedürfnissen vermitteln. Ich bin Spezialist für große Geschichten: vor allem für die Art und Weise, wie Entscheider über die Jahrzehnte die europäische Einigung dargestellt haben.

Recherchen zu Trendthemen und langfristigen Entwicklungen erhalten Sie bei Nimirum. Auf Ihre individuellen Fragen zugeschnitten, fundiert und anwendbar. Wir rufen Sie gern zurück!

Mehr Lesestoff

informieren
engagieren

Eine (wahre) Geschichte der Fake News

Stefan Raab ist tot, Obama bei einem Brand ums Leben gekommen, und der Papst unterstützt Trump? Frei erfunden – aber so wirksam, dass die Angst vor den Fake News umgeht. Vor „Lügenschleudern“ (Spiegel), vor den „Armeen der Unwahrheit“ (Die Zeit). Eigentlich gibt es schon Mechanismen dagegen. Aber das heutige Problem ist ein ganz anderes. Eine Analyse von Nimirum-Experte Dr. Christian Salzborn.

Von Christian Salzborn, 06.02.2017

engagieren
informieren

Nimirum: internationale Einschätzungen zur US-Election 2016

Es ist Realität. Donald Trump wurde zum Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika gewählt. Die Reaktionen reichen von zufrieden über überrascht bis zum Rande des Nervenzusammenbruchs. Einen Tag nach der Wahl äußern unsere Experten Erwartungen an die Zukunft und analysieren Reaktionen von Kanada über die Schweiz bis Russland.

Von 20blue, 10.11.2016

informieren

​Wer schützt meine Daten? Datensicherheit in der Industrie 4.0

Industrie 4.0 und das Internet of Things, nichts funktioniert ohne Daten. Nimirum-Experte Winfried Beyer klärt in unserem Artikel die wichtigsten Fragen zu Datenverlust, Datensicherheit und beantwortet auch die wichtigste Frage: Wie kann ich meine Daten schützen?

Von Windfried Beyer, 22.08.2016

informieren

Wenn zugleich, dann deswegen? Falsch! Big Data und das Problem von Kausalität und Korrelation

„Correlation does not imply causation!“ wird bei der Analyse von Daten immer wieder gewarnt. Wir zeigen, warum es doch immer wieder passiert und warum einige Stimmen in Zeiten von Big Data behaupten, dass Korrelation angeblich ausreichen soll. Vor allem zeigen wir, wie man wirklich richtig mit Daten umgeht.

Von Björn Berger, 06.04.2016

Keinen Beitrag mehr verpassen

In unseren regelmäßig erscheinenden Formaten präsentieren wir regelmäßig die spannendsten Inhalte und Insights von 20blue.

E-Mail-Einstellungen

Ihr direkter Kontakt zum 20blue-Team

Sie haben eine Frage oder möchten mit uns zusammenarbeiten? Dann kontaktieren Sie uns! Wir sind von 09:00 bis 17:00 Uhr für Sie erreichbar. Schriftliche Anfragen beantworten wir binnen 24 Stunden, oft auch schneller.

Ihr Kontakt zu uns