Werden Sie mal nicht zum Flüchtling!
Christophe Fricker , 30.11.2015

Nimirum-Inhaber Dr. Christophe Fricker bezieht Stellung zur Flüchtlingsdebatte und ihrem Gefühlschaos. Er warnt vor Kollektiven und appelliert an die Unternehmer in uns. Die Kolumne zur Krise.
Die Auswirkungen der Flüchtlingskrise werden uns in Deutschland lange und intensiv beschäftigen. Und zwar auch dann noch, wenn Politik und Verwaltung sich längst mit anderen Themen befassen. Die Bundesregierung und insbesondere die Bundeskanzlerin geben die großen Linien der Politik vor, sie entwickeln Visionen und gestalten die Rahmenbedingungen unseres Gemeinwesens. Die Behörden, auch die Sicherheitsbehörden, bringen verbindliche Standards zur Anwendung. Auf allen diesen Gebieten ist derzeit viel in Bewegung, und auch wenn es im Asylrecht letztlich um Einzelfallprüfungen geht, haben wir es allein durch deren Anzahl derzeit mit einer krisenhaften Herausforderung für die Funktionsfähigkeit der Exekutive zu tun.
Die langfristige wirtschaftliche und gesellschaftliche Herausforderung liegt aber ganz woanders, und ob diese sich meistern lässt, liegt nicht an der Größe mancher Zahlen. Im Gegenteil. Sowohl das Gerede von Massen und Ausdrücke wie Lawine, Flut und Druck als auch das einseitige Hoffen auf große Institutionen lenkt davon ab, dass die Integration von Neuankömmlingen in Gesellschaft und Arbeitsmarkt nur von Mensch zu Mensch geleistet werden kann.
Zwei Negativbeispiele sollten uns als Warnung vor Augen stehen: einerseits der Umgang der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft mit den Gastarbeitern aus Südeuropa und insbesondere der Türkei. Jahrzehntelang herrschte die immer absurdere Fiktion, dass diese Gastarbeiter und ihre Familien nur vorübergehend in Deutschland sind, gar nicht wirklich zu Deutschland gehören und daher auch nicht beachtet werden müssen. Ich bin in einer Stadt mit 20% Ausländeranteil aufgewachsen, habe aber weder in meinem Stadtteil noch auf meiner Schule in den ersten 18 Jahren meines Lebens auch nur ein einziges Gespräch mit einem Türken, Griechen oder Jugoslawen geführt.
Das zweite warnende Beispiel sind die Reaktionen auf die Terroranschläge von Paris. Die Einen beschuldigen pauschal den Islam, die Migranten oder die Flüchtlinge, während die Anderen ebenso pauschal den Westen, den Kapitalismus oder den neokolonialen Kulturimperialismus als Verantwortlichen ausmachen. Diese brachialen Verallgemeinerungen überdecken die Tatsache, dass nicht große Institutionen, sondern Orte des normalen Alltags Schauplätze der Attentate waren. Die Lösung des Problems können wir nicht von Einrichtungen erwarten, die allenfalls indirekt im Feuer standen.
Auch die Flüchtlingskrise ist eine Herausforderung an die Zivilgesellschaft.
Die große Chance liegt sowohl aktuell als auch mittel- bis langfristig darin, die Ressourcen zu entwerfen und einzusetzen, die jetzt nötig sind. Interkulturelle Beratung und Handlungskompetenz sind nötig im Umgang mit vielen verschiedenen einzelnen Menschen und vielen kleinen demographischen Gruppen, die ihrer Ausbildung, Wirtschaftskraft und Ambition nach viel stärker ausdifferenziert sind, als das der bürokratische Begriff „Flüchtling“ abbilden kann.
Die aktuelle Krise ist nicht nur eine Herausforderung für Regierung und Regulierung, sondern auch eine große Chance für den mutigen, innovativen, lösungsorientierten, zielgruppenspezifischen undkonstruktiven Umgang mit Menschen, die wir viel leichter erreichen können, als sie uns erreicht haben.
Lassen Sie uns nicht zum Flüchtling vor den Chancen der aktuellen Lage werden.