10 Leseempfehlungen von Dr. Christophe Fricker
Christophe Fricker , 19.12.2017

Zum Ende des Jahres hat Dr. Christophe Fricker, Managing Partner bei Nimirum und selbst Autor, Übersetzer und Literaturwissenschaftler, 10 Leseempfehlungen zusammengestellt. Egal ob als Last-Minute-Weihnachtsgeschenk oder Jahresrückblick auf 2017.
Wie sieht es aus in Deutschland und Europa, und was können wir tun? In Krisenzeiten ist Orientierung Gold wert, und im hektischen Berufsalltag fehlt manchmal die Zeit, sich wirklich darum zu kümmern. Die Zeit zwischen den Jahren kommt uns da gerade recht, und auch ich werde mich mit einigen Denk- und Leseaufgaben zurückziehen.
Im Lauf des nun zu Ende gehenden Jahres hatte ich Gelegenheit, einige Stellungnahmen zur aktuellen Situation zu bewerten, und die Hinweise auf anregende und spannende Bücher gebe ich Ihnen gern weiter – vielleicht ist etwas für Sie dabei, und vielleicht ja auch etwas zum Verschenken.
1: Was heißt Freundschaft?
Ein Highlight meines Lesejahres war Björn Vedders Buch Neue Freunde: Über Freundschaft in Zeiten von Facebook. Der Titel verkauft den Inhalt massiv unter Wert. Ja, es geht auch ein bisschen um Facebook. Es geht auch um altmodische und folgenlose Vorbehalte gegen das Netzwerk. Aber mit dem Wort „neu“ im Titel ist viel mehr gemeint, und zwar so viel, dass dem Leser angesichts des intellektuellen Wagemuts der Atem stockt. Zumal Björn Vedder eben auch noch einhält, was er verspricht – „eine Theorie der Freundschaft“ zu liefern. Neue Freunde will feststellen, was „Freundschaft“ heute heißen kann. Ein spannendes Buch, anspruchsvoll und ehrlich. Dauernd streicht man sich etwas an, und fast versucht man, die angestrichenen Formulierungen auswendig zu lernen!

2: Politische Emotionen
Warum hat die AfD eigentlich das Monopol auf politische Emotionen in Deutschland? Die anderen Parteien sprechen vom Problemelösen. Sie geben sich rational und sachlich und haben Angst vor dem Populismus. Emmanuel Macron zeigt, dass es anders geht – dass auch die Mitte emotional und volksnah sein kann. (Eigentlich wissen Union und SPD das doch auch …) Und welche Emotionen sieht man auf der Rechten? Nicht Wut, sagt Uffa Jensen, sondern Zorn. Seine Analyse der politischen Emotionen in Deutschland ist – angenehm unemotional und erhellend!

3: Vertrauliche Gespräche über den Zustand unserer Gesellschaft
Zygmunt Bauman war einer der wichtigsten Soziologen der letzten Jahrzehnte. 2014 und 2016 empfing Bauman den Schweizer Autor Peter Haffner in seinem Haus in Leeds, um sich mit ihm ausführlich über sein Leben, sein Werk und seine Hoffnungen auszutauschen. Die nun als Buch vorliegende Fassung streift Baumans große Themen: die Liebe in Zeiten des Online-Shoppings, das Gottesbedürfnis des Atheisten, die Regierungslosigkeit der ebenso ungleichen wie fragmentierten wie vernetzten Welt, die Spannung zwischen Sozialismus und Optimismus, die Gestaltbarkeit der Welt im Augenblick der moralischen Entscheidung. Ein Glanzstück der Gesprächskultur!

4: Zurück zum Stammesfeuer?
Zygmunt Baumans letztes Buch beschäftigt sich mit der Sehnsucht vieler Menschen in westlichen Ländern nach einer Rückkehr zu den Wurzeln, zu Nationen, Stämmen und Nachbarschaften. Das Buch streift viele Themen, manchmal zu kurz, manchmal nur sehr aus erlesener Ferne. Aber die Auseinandersetzung mit dem Thema Bedingungsloses Grundeinkommen, die Lektüre von Selbsthilfebüchern im Gefolge von Ayn Rand und die frappierende katholische Schlusswendung machen die Lektüre spannend – ein Buch, bei dem man auf jeder Seite zwei Einwände hat. Auch das ein Kompliment!

5: Neue Marmorklippen
Von Ernst Jünger kennt man vor allem zwei Werke: In Stahlgewittern, das wichtigste tagebuchbasierte deutsche Buch aus dem Ersten Weltkrieg, und Auf den Marmorklippen (1939), das nun in einer Neuausgabe vorliegt. Neben dem Text sind die zeitgenössischen Rezensionen aufgenommen, und private Äußerungen über das Buch aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs von Autoren wie Heinrich Böll, Alfred Andersch, Carl Schmitt und Jean Cocteau. Sie zeigen: Jüngers Buch wurde tatsächlich als das wesentliche widerständige Buch aus der Zeit des Dritten Reiches wahrgenommen. Aber die NS-Machthaber griffen es nicht an, denn sonst hätten sie ihre Schuld an Verrohung und Brutalität eingestehen müssen, die im Buch fast märchenhaft überformt werden. Ein Klassiker der deutschen Literatur, ergänzt durch faszinierende Dokumente und Analysen des Herausgebers Helmuth Kiesel.

6: Die größte Macht der Erde: Ebbe und Flut
Die Hälfte der Menschheit lebt an Küsten – trotzdem wissen wir wenig über die Elementarkraft der Gezeiten. Und das obwohl deren physische Präsenz uns seit jeher beeinflusst und vielleicht sogar unsere DNA miterschaffen hat. Schon Aristoteles brachte ihre Unberechenbarkeit zur Weißglut, und ihre potenziell zerstörerische Kraft wird die Menschheit auch in Zukunft betreffen. Hugh Aldersey-Williams beschreibt, wie der Mensch die Gesetze erforscht, denen das Wasser – und damit auch das Klima – unterworfen ist. Leichtfüßig verbindet er die Wissenschaft von Ebbe und Flut mit großen Erzählungen und Mythen. Nehmen Sie Platz, das maritime Drama mit einer Länge von 12 Stunden und 30 Minuten beginnt!

7: Preisträger-Potpourri
Lauter Highlights bringt die neue Ausgabe von „Deutschlands frechster Literaturzeitschrift“ (Cicero) zum Thema Natur: Dabei sind James Dickey, der mit Deliverance (Flussfahrt) einen der wichtigsten amerikanischen Romane überhaupt schrieb (verfilmt mit John Voight und Burt Reynolds unter dem Titel Beim Sterben ist jeder der Erste), Büchner-Preisträger Jan Wagner, der konservative Starautor Martin Mosebach und der kauzige Kultautor Ulrich Holbein.

8: Ankunft in einer fremden Stadt
Ein Literaturnobelpreisträger sagte einmal, man müsse auch nicht dauernd was Neues lesen – sondern die Bücher finden, die einem wirklich etwas sagen, und die müsse man immer wieder lesen. Eines dieser Bücher ist für mich Devices and Desires von Dick Davis, mit seinem Gedicht über die Ankunft des Reisenden in einer fremden Stadt. „Ibn Battuta“ ist sozusagen der islamische Marco Polo, und er schildert in seinem Reisebericht, wie er ankam und jeder wurde von einem lieben Gesicht begrüßt, nur er nicht. Dick Davis greift diese Szene auf und beschreibt, wie sehr sie uns noch heute bewegt.

9: Krise und Gemeinschaft
Mit einer multidisziplinären Forschungsgruppe habe ich in den letzten fünf Jahren eines der provokativsten und ungewöhnlichsten Werke in deutscher Sprache am Hanse-Wissenschaftskolleg untersuchen dürfen: Stefan Georges Gedichtband Der Stern des Bundes. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs stellt George soziale, religiöse, poetologische, persönliche, philosophische und sogar wirtschaftliche Fragen. Der Stern des Bundes galt als Voraussage kommender Katastrophen, als Warnung und als Anregung zu neuer Gemeinschaftsbildung im Angesicht großer Krisen. Krise und Gemeinschaft ist eine Einführung zu diesem Buch – Aufsätze zu den großen Themen des Buches werden ergänzt durch Beiträge zu wichtigen Worten aus dem Stern und Interpretationen zentraler Gedichte.

10: Kritische Kollektivität
Carolin Wiedemann ist den Leser des Frankfurter Allgemeine Quarterly als Autorin fesselnder kleiner Einblicke in den modernen gesellschaftlichen Alltag vertraut. In ihrem Buch Kritische Kollektivität im Netz: Anonymus, Facebook und die Kraft der Affizierung in der Kontrollgesellschaft stellt sie die These auf den Prüfstand, dass soziale Netzwerke zur Demokratisierung und zu einer grundlegenden Neuordnung von Machtverhältnissen führen können. Sie ist skeptisch und untersucht im Detail, was eigentlich heute „subversiv“ ist und wo es neue „Kollektive“ gibt. Ihre Zurückweisung des Technikoptimismus ist überzeugend, aber was menschliche Handlungsfähigkeit und politische Aktion angeht, geht das Buch meiner Meinung nach nicht weit genug. Aber vielleicht sehen Sie das anders?
