Das eine Netz Welt,
in dem wir alle leben
Ute Altanis-Protzer , 22.04.2021

Gezeichnet von Michael Mutschler
“Ich habe kein Rezept für die dringend notwendige Behandlung dieses Zustandes, aber eins hat sich mir ganz klar eingeschrieben: Die immer komplizierter werdenden Informationen von Expert:innenseite müssen allen in verständlicher Weise kommuniziert werden; ich glaube, dass hier den Wissenschaftsjournalist:innen eine ganz wesentliche Stellung zukommt.” Ein Expert Statement von Dr. med. Ute Altanis-Protzer zur Bedeutung von Wissenschaftsjournalismus in der Pandemie.

Dieser Beitrag erschien als Teil unserer #expertstatements
Vor einem Jahr zitierte ich an dieser Stelle den Text der Nobelpreisträgerin Olga Tokarcuk, in dem unsere Welt als ein großes Netz benannt wird, in dem wir alle hängen und voneinander abhängig sind, unterschiedslos, da wir alle genauso krank werden, Angst haben und sterben.
Man könnte ein diesjähriges Update hier beenden. Denn deutlicher als jemals ist in der Pandemie doch eben dies erkennbar geworden. Der Begriff sagt es schon: Pandemie bedeutet ein weltumspannendes Ereignis, bei dem in unserem Zeitalter der Globalisierung alles alle betrifft.
Wie allerdings die Zusammenhänge sind, was wir hinterfragen müssen und welche Konsequenzen wir daraus ziehen sollten, dazu hat es viele neue Einsichten und Vertiefungen gegeben in diesem ereignisreichen Jahr mit seinem dauernden Auf und Ab, in dem wir durch wissenschaftliche Erkenntnisse und manche Erfahrungen bereichert wurden.
Ich habe in diesem Jahr vor allem eins gesehen: die ungeheure Wichtigkeit von Transparenz und Kommunikation und die unmittelbar resultierenden Folgeerscheinungen, wenn diese fehlen: Vertrauensverlust, das Gefühl des Ausgeliefertseins und gefährliche Angstzustände auf allen Seiten, die uns und unsere Politiker:innen dann an notwendigen Entscheidungen hindern – ein Teufelskreis.
Was ist alles geschehen! Wir sehen zaghafte Teil-Lockdowns und verzweifelte Öffnungsstrategien, vorübergehende „Nicht-mehr-Risiko-Gebiete“, an anderer Stelle aus dem Nichts erscheinende Hochrisikogebiete, neue Mutationen mit exponentiellem Wachstum und das mehr oder weniger große Verstehen, was dieses bedeutet. Wir haben erlebt und erleben politische Entscheidungen wie wechselnde Inzidenzgrenzen, die, wenigstens einmal festgelegt, dann lokal nicht umgesetzt werden; halbwahre und ganz unwahre Berichte über alles irgendwie mit Corona Zusammenhängende, von Masken bis zu Impfstoffen; eine brodelnde Masse von „News“ und „Eilmeldungen“ in sozialen Netzwerken und Medien jeder Art; nein, ich spreche nicht von „Verschwörungstheoretiker:innen“, sondern von unserem alltäglichen Nachrichtenkonsum. Wer gelernt hat, Quellen zu lesen, liest anders und sieht: eine Wissenschaft in Entwicklung, täglich neu auftauchende Fragen, Antworten und steilansteigende Kurven.
Ich habe kein Rezept für die dringend notwendige Behandlung dieses Zustandes, aber eins hat sich mir ganz klar eingeschrieben: Die immer komplizierter werdenden Informationen von Expert:innenseite müssen allen in verständlicher Weise kommuniziert werden; ich glaube, dass hier den Wissenschaftsjournalist:innen eine ganz wesentliche Stellung zukommt. Von denen gibt es, trotz einiger weniger leuchtender Beispiele, in der Breite ganz offensichtlich viel zu wenige. Das erhöht die Gefahr, dass komplizierte Sachverhalte einseitig, fehlerhaft oder gar gezielt irreführend in Medien großer Reichweite verbreitet werden.
Was ich also nach diesem Jahr Erfahrung gern ändern würde:
- Den Beruf des Wissenschaftsjournalisten bekannter und attraktiver zu machen. Viel mehr Medien müssten sich jetzt darüber klar werden, dass Wissenschaft nichts für „nebenher“ sein darf und entsprechende Stellen schaffen, damit übersetzt werden kann, was nötig ist, um aufgrund von wissenschaftlichen Erkenntnissen zu entscheiden – in der Medizin sprechen wir von „evidenzbasiert“.
- Die zweite Voraussetzung, um kluge Entscheidungen treffen zu können, ist nach der guten Information die kluge eigene Verarbeitung. Das einfache Wort denken ist hier durchaus angebracht. Kritisches Denken, nicht akutes Handeln aus irgendeiner einseitigen Interessenlage heraus. Betrachten wir unser Welt-Netz, in dem Grenzen für das Virus nicht existent sind, und es wird klar, dass alle nationalistischen und egozentrischen Entscheidungen nicht erfolgreich sein können.
Es ist so schlicht wie es klingt: nur gute Information und kritisches eigenes Denken führen zu einer klugen Abwägung und zu nachvollziehbaren politischen genauso wie individuellen Entscheidungen. Für die die „Verantwortung“ dann selbstverständlich bei uns allen liegt, aber eben besonders auch bei den durch uns gewählten Politiker:innen; der ausschließliche Appell an die Eigenverantwortung führt ja inzwischen nicht mehr zu Befriedigung und Stolz, sondern eher zu Wutreaktionen.
Ich sprach von meinem Traum letztes Jahr: “…. einer offenen Gesellschaft mit freien Individuen, die Entscheidungen auf informierter Basis treffen.“
Daran hat sich nichts geändert. Heute, ein Jahr später, würde ich aber die Notwendigkeit „besserer Information“ mehr betonen und zusätzlich die eines Rahmens, den Politik setzen muss und in dem jede:r Einzelne verantwortlich handeln kann. Eines Rahmens, bei dem es sich nicht um Freiheitsbeschränkung von Individuen handelt, sondern um eine „Straßenverkehrsordnung“, die mit roten Ampeln verhindert, dass die einzelnen Bürger:innen ihr Leben verlieren, danach aber niemandem vorschreibt, in welche Richtung er oder sie nach der grünen Ampel zu gehen hätten.
Es wird eine Zeit nach Corona geben und sie ist mit einigen Voraussetzungen bereits abzusehen. In dieser Zeit werden wir uns wieder um unser allgemeines Wohlergehen kümmern können, nicht nur um das gesundheitsbezogene. Wir sollten, müssen jetzt die Grundlagen dafür legen.