Das Unbehagen im Leiberspace
überwinden
Alfred Fuhr , 02.06.2021

Gezeichnet von Michael Mutschler
Vor einem Jahr schrieb Alfred Fuhr über Chancen und Risiken virtueller Messen und Events in Zeiten von Corona. In seinem aktuellen Expert Statement ordnet er die Entwicklung ein und stellt klar: “2021 brauchen Veranstalter:innen Konzepte, um ihre Messen, Kongresse und Konferenzen zeitgemäß zu gestalten und ihren Besucher:innen ein gutes digitales Erlebnis zu bieten. Corona ist dabei nur der Katalysator für eine Entwicklung, die sich nicht mehr umkehren lässt.”

Dieser Beitrag erschien als Teil unserer #expertstatements
Der von der Pandemie erzwungene Umzug von Messen und anderen Live-Events in die virtuellen Räume machen keinen so richtig glücklich. Digitalisierung ja – aber der persönliche Kontakt, die Messeatmosphäre fehlt den Unternehmen genauso wie den Künstler:innen ihr Adrenalin, wenn sie nicht mehr live vor ihrem Publikum auftreten können. Wo man außer dem Hintergrund wenig selbst bestimmen kann, und wo sich Moderierende und Honoratioren in weltraum-ähnlichen Weiten verlieren, hat jede:r Vortragende Mühe, seine Zuhörenden nicht zu verlieren.
Als „Leiberspace“, hat der Soziologe Johannes Burow dieses neue Einerlei von Zoom, Teams und Fernsehimitationsversuchen auf digitalen Messen bezeichnet. Was kann man tun, um sich in diesem Zwischenreich noch von anderen abzuheben? Wie den Raum optisch so einrichten, dass nicht nur wir uns darin wohlfühlen, sondern auch die Menschen, die uns am Bildschirm beobachten? Und wie kriegen wir es hin, vielleicht dann auch noch wie auf einer Messe Handel zu treiben und Neues zu entdecken?
Nur digital kann man keine Geschäfte machen
Handeln – kaufen und verkaufen – das fand schon vor der Pandemie selten an beliebigen Orten statt, sondern zu bestimmten Zeiten auf Marktplätzen und Messen. Da gab es strikte Regeln, Marktordnungen, die von Marktmeistern und Messeveranstaltern überwacht wurden. Man kann eben nicht einfach mal so mit seinem Produkt im Bauchladen über die Messe gehen, sondern man muss einen festen Stand buchen, je größer desto besser für die Sichtbarkeit auf der Messe. Marken brauchen einen passenden kleinen oder großen Auftritt. Aber genau das fehlt in den neuen digitalen Räumen, wo wir seit der Pandemie alle festhängen.
Im Gegensatz dazu brauchen die Anbahnung von Geschäften oder auch nur die Gewinnung von Leads und die Verkaufskommunikation diskrete Räume. Die Website, der Webshop stehen nämlich meist erst am Ende der Customer Journey. Wenn alles zu hat, bleibt uns nur der keimfreie kontaktlose Kontakt unter Fremden auf den neuen virtuellen Marktplätzen. Unabdingbare Voraussetzung der Diskretion ist Vertrauen.
Das Fernsehen als Vertrauensunternehmen schlägt die digitale Messe und das Bildschirm-Zoom-Meeting um Längen
Im Internet bietet die geografische Nähe keinen Vertrauensvorschuss mehr für die Kontaktaufnahme und den Aufbau sozialer Beziehungen, denn der jeweils andere wohnt ja nur einen Klick weit entfernt. Das Netz bietet Möglichkeiten zur weltweiten Kontaktaufnahme, die die bisherigen Medien zur Massenkommunikation in den Schatten stellen, wie z. B. der Netzwerkpionier Howard Rheingold erläutert:
Diese grenzenlosen Kommunikationsströme überwinden geografische Hindernisse und führen nationale Grenzen ad absurdum.
Wie aber kann man sich mit einer digitalen entgrenzten Veranstaltung vom Wettbewerb unterscheiden und Markenversprechen erlebbar machen in diesen stets gleichen virtuellen Räumen? Vielleicht hilft ein Blick in die Geschichte des Fernsehens. Wie gelang dort die emotionale Bindung an den Bildschirm?
In parasocial we trust
In den 1950er-Jahren entstand die Bindung vom Fernsehen und seinen Inhalten zu den Kund:innen. Für die Soap Opera wurde in den USA das Beste aus dem Theater mit den Erfahrungen der Suggestion aus dem Radio und mit der Bildgewalt des Kinos und der Aktualität der Telegrafie zusammen in die Wohnzimmer von Millionen Haushalten gesendet. Bis heute beherrschen Fernsehmacher diese Kunst, über den Bildschirm Menschen zu begeistern, während die Profis für das digitale Event und ihre Auftraggeber sich frustriert fragen, wie die das hinkriegen.
Intimität auf Distanz
Die Abenteuer der Kommunikation im Echtzeit-Massenmedium Fernsehen sind deshalb so erfolgreich, weil sie der Logik des Schachspiels folgen. Der Berliner Soziologe Harald Wenzel hat bereits 2001 beschrieben, warum das Fernsehen aller Kritik zum Trotz (Verdummungs- und Brainwashing-Maschine) vor allem ein erfolgreiches Vertrauensunternehmen ist. Wie lassen sich nun die Versatzstücke der erfolgreichen Fernsehpraxis auf Videokonferenzen und digitale Messen übertragen?
Das Gambit
Wie wird parasoziales Vertrauen vom Moderator einer Show geschickt über das Saalpublikum hinaus zum Fernsehpublikum aufgebaut? Wie beim Schach, wenn Weiß mit der Eröffnungsvariante Gambit Schwarz zu einer klaren erwartbaren Reaktion zwingt, um überhaupt eine Gewinnchance zu haben. Ein Fernsehmoderator ist Teil und Anwalt des Publikums, und damit zwingt er seine Gäste zum Mitspielen. Mit rhetorischen Mitteln schafft er es, dass das Publikum seiner Regie folgt. Dazu gehört eben auch, plötzlich aus der Rolle des Moderators herauszuspringen, um sich zum Narren zu machen. Oder den CEO dazu zu bringen, sich so zu verhalten. Manchen gelingt das – aber keiner weiß, wie er aus der Nummer wieder rauskommt, ohne sich vor den Mitarbeitenden zu blamieren. Darum gehen vermeintlich authentische Gespräche mit CEOs meistens schief.
Natürlich kann sich auch das Fernsehpublikum diesem Treiben verweigern, doch das Stammpublikum zeigt meist die Reaktion vor dem Fernsehbildschirm. Alles darf der Moderator nicht. Ihm hilft die Zuschauerforschung und natürlich seine Berufserfahrung, um nicht völlig aus der Rolle zu fallen, sondern sich den Erwartungen gemäß mal als der „perfekte Gastgeber, Zuhörer, Freund, Nachbar” als ein Mensch wie Du und ich, oder eben allem enthoben vor der Kamera zu inszenieren.
Wir sind alle fernseh-sozialisiert, und wenn beim Live-Event vorne eine:r spricht, hören wir still zu. Die Kommunikationsplattformen laden uns zur Partizipation ein und verkaufen das als Riesenfortschritt. Und partizipieren wir, vernetzen wir uns zwanglos im Dialogfenster? Erfahrungsgemäß wird die Kommentarspalte am häufigsten dafür genutzt, nach der Verfügbarkeit der Aufzeichnung nach dem Event zu fragen.
Deshalb scheitern selbst Keynote-Stars kläglich, wenn sie ohne Publikum auf Zoom präsentieren müssen. Keynotes der Veranstalter, die Kernbotschaft oder der Werbeblock der Marketingabteilung, das Unternehmensvideo – das schauen wir uns gerne später auf der Webseite an. Warum sollen wir uns mit den Referent:innen durch das Programm quälen, wenn wir doch wissen, dass wir nur Tage später einen perfekt aufbereiteten Nachbericht bekommen?
Natürlich sind wir für die Möglichkeit dankbar, uns auf der Konferenz mit anderen zu vernetzen. Aber das muss einfacher gehen. Digitale Events müssen es schaffen, ein solches „parasoziales Vertrauen“ zwischen Medium und Publikum zu erzeugen. Dieser Effekt gelingt weder den Presse- und Kommunikationsabteilungen, die nun plötzlich zu Bewegtbild-Produktionsexperten und Dramaturgen von spannenden Sendungen werden müssen, noch den Herren und Damen vom Vorstand. Aber „weiter so“, geht auch nicht. „Geht nicht, gibt’s nicht“, aber alles geht, das geht auch nicht. Die Dramaturgie des Events und die Botschaft müssen stimmen, und es müssen Erlebnisse möglich werden, die mindestens besser als das gute alte Fernsehen sind.
Und es geht immer besser, wenn man nicht alles nur den anderen nachmacht.
Best Practice – Beispiele für das Beste aus allen drei Welten.
“Our virtual events model is exclusive to our brand.”
“At Firecrown Media you’ll never see us using traditional video communication platforms like Zoom or Microsoft teams. Our virtual events model is exclusive to our brand. We leverage a TV production crew, broadcast studio, remote contributors, branded lower third graphics and so much more. What you get is high-energy, custom video content produced to broadcast-level standards. (…) Whether it’s a monthly companywide virtual meeting or a trade show with thousands of caffeine-fueled attendees, the only measure of success for every host is now a broadcast-quality virtual event that will captivate and inform audiences wherever they may be. It’s no longer enough to create virtual events — create virtual experiences."
Gerade habe ich im Rundfunk gehört, dass Realisatoren des MDR im Rahmen der Leipziger Buchmesse ein neues hybrides Format für die Literaturlesung entwickelt haben, indem sie in einem faszinierenden Raum – der Leipziger Nikolai-Kirche – die Mittel des Theaters und der bildenden Kunst für eine Lesung mit professionellen Sprecher:innen einsetzen. Das Beste aus allen drei Welten könnte helfen, unser Unbehagen im Leiberspace des Virtuellen in Begeisterung zu verwandeln.