Nichts Gutes und doch so viel
blush & blue #001
Anja Mutschler , 04.03.2022

blush & blue, Ausgabe 1: Nichts Gutes und doch so viel. Kalt und warm. Optimistisch und nachdenklich. Heiter und tiefsinnig. Unsere zwei Unternehmensfarben weisen den Weg: Das monatliche Editorial von Anja Mutschler, Managing Partner des Research Institute 20blue spürt einmal im Monat den wichtigen Debatten und Zeitläuften nach. Mit Kopf, aber nicht kühl.
Es gibt nichts Gutes an einem Krieg
Was haben John Lennon und Anna-Lena Baerbock gemeinsam? Ich wundere mich selbst, dass ich diese Analogie ziehe, aber es ist so: poetische Klarheit im Angesicht eines Krieges. Die Rede der Außenministerin vor der UN-Vollversammlung am 1. März 2022 fasst mit einfachen und klaren Worten das grundlegende Missverständnis von Krieg zusammen. Nein, Panzer bringen kein Wasser, Babynahrung oder gar Frieden. Und ja, es geht um ein Baby wie Mia, deren Mutter – für mich kaum vorstellbar! – wohl unter Wehen in einen Keller fliehen musste. Wenn Menschen auf Menschen schießen, ist das Ziel, egal, welches es war, schon verfehlt. Es gibt nichts Gutes an einem Krieg. Für niemanden, da kann Putin seinen Mund im neuen, im Darknet der Despoten offenbar erwerblichen, Maskengesicht noch so entschlossen hin und her mahlen. Die passende musikalische Untermalung zu der Forderung, die vor allen anderen strategischen, politischen und wirtschaftlichen stehen sollte, kam heute um 8.45 Uhr von John Lennon. Der Friedensbarde hatte heute postum einen großen Auftritt. Sein vom Vietnamkrieg inspirierter Song “Give peace a chance” von 1969 wurde zu diesem Zeitpunkt europaweit im Radio gesendet. Meine erste Reaktion am Donnerstag den 24.2.2022 war übrigens weitaus prosaischer.
Gäbe es den Krieg nicht, könnten wir uns also freuen: Über die neue europäische Einigkeit, die neue europäische Großzügigkeit, die Hilfsbereitschaft von Völkern und Menschen, die Tatsache, dass Sanktionen auch richtig angewendet werden können (und dann, ach!, Wirkung zeigen), darüber, dass wir Olaf Scholz wenigstens einmal haben schwitzen sehen bei seiner Zeitenwende-Rede am Sonntag, den 27. Februar 2022. Manche würden sich möglicherweise auch freuen darüber, dass Deutschland wieder Deutschland sagen kann, weil wir den Schwarzen Peter für kulturelle Abgrundtiefenhaftigkeit soeben weitergeben konnten. Aber da sind wir schon an dieser gefährlichen Grenze angelangt: Es bedarf DIESES Krieges, damit sich etwas ändert. Und wenn wir das zu Ende denken, nun, dann können wir uns über nichts freuen.
In den vergangenen Wochen und Monaten, ach nein, es waren ja nur Tage, konnte ich mit einigen Ukrainer:innen (sie haben auch die Femen gegründet, alles klaro?!?) und Menschen aus Anrainer-Staaten sprechen. Ich habe auch Twitter wieder schätzen gelernt - das sich Corona-zu-Tode-geflamt hatte - weil dort auch Menschen wie Marina Weisband oder Jenny Havemann unterwegs sind. Gebürtige Ukrainerinnen, die uns fühlenden, aber nur abstrakt betroffenen Bio-Deutschen die Richtung weisen, die richtigen Quellen teilen und einordnen und trotzdem die ganze Zeit beim Wesentlichen bleiben: dem Horror und der Tatsache, dass dort ein Volk, das Frieden und Wohlstand wollte, von einem auf den anderen Tag zu Vertriebenen wurde.
Besser: De-Bugging der Demokratie
Keiner weiß, was morgen ist aber: Krieg kann keine neue Normalität werden. Die Begründung für diese Invasion ist so banal wie einleuchtend: Europa ist zu attraktiv. An einem noch attraktiveren Europa zu schrauben, ist die Einfluss-Sphäre, die wir außerhalb des politisch-diplomatischen Corps besitzen. Die Werkzeuge liegen längst auf dem Tisch, wir haben es an den Sanktionen gesehen: Wenn sie gemeinschaftlich und stringent angewendet werden, erfüllen sie ihren Zweck. Demokratie offener und so widerspruchsfrei wie möglich zu gestalten, ist eine Aufgabe, die sich aus dem aktuellen Desaster für Unschuldige ergibt.
Dabei sollten wir geduldig mit uns sein. Denn Menschlichkeit, die gegen Gewohnheiten verstößt, schafft es oft erst im zweiten oder dritten Anlauf. Menschen lernen meist erst aus Fehlern, Rückschläge und Verwirrungen gehören zwangsläufig dazu.
„Wir schaffen das“, ein Satz, der richtig und gut war von Frau Merkel, wird acht Jahre später Wirklichkeit. Migration zum richtigen Zeitpunkt behebt Systemfehler. Der Rest ist unser (Nicht-)Wollen. Lassen Sie das einfach mal so stehen. Danke.
Nachhaltigkeit ist ein weiteres Beispiel für ein De-Bugging-Tool mit Lernkurve. German Zero, eine NGO, die mithilfe von Menschen aus Wissenschaft, Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft eine umsetzbare und widerspruchsfreie Gesetzesvorlage formuliert hat, gehört zu meinen Lieblingsbeispielen, dass Nachhaltigkeit pragmatisch und ideologisch behandelt, enorm wirkmächtig konzipiert sein kann. (Hier mein Podcast mit German Zero). Sie zeigt: Nachhaltigkeit kann Fehlermeldungen beseitigen, die das Wirtschaftswachstum, Wohlstandstreiber und damit auch ein wichtiger Baustein für Demokratie, produziert haben. Seit 50 Jahren wissen wir, was zu tun ist. Jetzt kommt es, vielleicht umso mehr, darauf an, „in die Pötte zu kommen“.
Diese Verantwortung tragen nicht nur wir als Verbraucher:innen, auch wenn es uns oft so vorkommt. Nur gemeinsam mit Unternehmen und Politik kann ein ernsthafter Shift gelingen, wie ich mit Magnus Fischer und Prof. Dr. Katharina Klug in der aktuellen Folge der 20blue hour feststelle, in der wir den nachhaltigen Konsum einmal von Grund auf aufgerollt habe.
Wie Unternehmen ernst gemeinte Nachhaltigkeit umsetzen können? Wir hätten gleich mehrere Vorschläge. Im Bereich der nachhaltigen Verpackung bieten wir aktuell eine sorgfältig vorbereitete Seminarreihe an.
Für das bigger picture hat 20blue-Expertin Daria Mak-Walther einen Expert Insight über das Umsetzen einer nachhaltigen Lieferkette geschrieben und debütiert dabei gleichzeitig den ersten Inhalt unseres Shops Edition 20blue. Für beide dieser Inhalte spenden wir im Übrigen im März 10% der Erlöse für humanitäre Hilfe im Kriegsgebiet in der Ukraine.
Was bleibt zu sagen? Szenario 0 kann und darf nicht eintreten, Sie wissen, welches ich meine. Unsere schärfste Waffe als Demokratien bleibt die Fähigkeit zur stetigen Verbesserung, zur Selbstkritik, zum Frieden.